Für einen Musiker, der mit einem Song über das Ausgraben von Toten berühmt wurde, ist die Laune fast noch zu lieblich: ein lauer Juniabend, man wippt zu fein rumpelnder Musik auf warmem Asphalt in einer Kirche ohne Dach, die Schwalben jagen über den blauen Himmel. „Die Stimmung ist gut“, stellt Voodoo Jürgens fest und beschließt: „Dann werden wir sie wieder ein bisserl runterfahren.“ Dazu eignet sich nach dem Dafürhalten des Wiener-Lied-Stars ein Runterzieh-Song über die Schulzeit. So schrecklich war die aber wohl gar nicht, bald stimmen die 400 Gäste ins Dauergrinsen des Musikers ein und singen mit ihm ein Loblied auf „zwei Sackerl Chips und ein’ Liter Eistee“.
Der Abend in der Katharinenruine ist ganz nach dem Geschmack der Besucher und besonders nach dem von einem hinten vor dem T-Shirt- und Platten-Stand. David Lodhi, als Betreiber des Club Stereo seit 20 Jahren der Impulsgeber der Nürnberger Pop-Szene, hat Voodoo Jürgens seit dessen Anfängen nach Nürnberg gebracht und immer weiter wachsen sehen. Dass einer mit morbiden Liedern über „Holzpyjamas“ (also Särge) in einem die meisten überfordernden Dialekt Furore macht, ist hier in Franken ebenso ein Phänomen wie anderswo außerhalb Österreichs. Aber es passt, genau an diesen Ort, und dieses Gespür besitzt Lodhi.
Seit einem Jahr ist er Co-Produzent des „Konzertsommers in der Katharinenruine“, einer von der Stadt Nürnberg veranstalteten Reihe. Diese Public-Private-Partnership sei „eine liebevolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe – eigentlich einzigartig“, sagt Lodhi. Genauso sieht das Anja Common, die das „St. Katharina Open Air“ seit 14 Jahren für die Stadt kuratiert: „Wir ergänzen uns wunderbar.“
Das heißt, die Stadt Nürnberg stellt einen fast magischen Ort und sichert finanziell alles ab, damit aus der Ruine kein Ruin wird. Und das gibt Anja Common und David Lodhi die Freiheit, ganz besondere Musiker einzuladen – wie heuer zum Beispiel noch die gleichzeitig singende, Klavier spielende und beatboxende Berlinerin Kid Be Kid (3. Juli) oder Yasi Hofer (2. Juli): Die ist eine wahre Entdeckung, nicht nur, weil sie für Helene Fischer Gitarre spielt, sondern weil Gitarren-Guru Steve Vai die Ulmerin schon als Zwölfjährige förderte und sie längst von Los Angeles mit ihrem Dream-Pop die Welt bereist.
Magische Stimmung in der Kirche ohne Dach: Die Silhouette zur blauen Stunde, hier beim Konzert von Voodoo Jürgens, fasziniert immer wieder in der Katharinenruine. (Foto: Désirée Pezzetta)
Kurz zur historischen Bedeutung der Ruine: Hier, in der 1297 geweihten gotischen Pfeilbasilika des Klosters St. Katarina, probten von 1820 an die Meistersinger, jene Sangesbrüder-Zunft, die den Ruf Nürnbergs als Musikinnovationszentrum mitbegründeten. Ein Luftangriff im Zweiten Weltkrieg zerstörte die Kirche bis auf den Chorraum und drei Grundmauern mit den gotischen Fenstern. Sie bietet, sorgsam im ruinösen Anschein renoviert, nicht nur einen pittoresken Rahmen, sondern auch eine meisterliche Akustik.
Viele Veranstalter wollen sich hier einmieten. Aber die Stadt Nürnberg veranstaltet lieber selber. Auch das ist selten. Ein ganzes Projektbüro Kultur in der Hand von Kulturbürgermeisterin Julia Lehner organisiert und unterstützt in der ganzen Stadt Festivals wahrer Superlative. Die Verantwortlichen im Tourismus-Marketing wollen das jetzt nutzen. Man will ein wenig gegensteuern, dass Besucher bei Nürnberg vor allem an Bratwürste, Christkindlesmarkt und die NS-Historie denken. „Nürnberg ist ein Fest“, sagt Oberbürgermeister Marcus König, „unsere Festivals strahlen weit über die Stadt und die Region hinaus und begeistern Einheimische und Gäste gleichermaßen“.
Mit der neuen Kampagne „Musifestivals Nürnberg – Klingt nach!“ will man sich verstärkt als „attraktive Destination für Musikbegeisterte positionieren“ und stolz zeigen: „Wir sind eine Festivalmetropole.“ Sechs Festivals präsentiert die Kampagne geballt, zusammen ziehen sie jetzt schon an die 400 000 Gäste an (bei insgesamt 3,8 Millionen Übernachtungen im Jahr 2024) – und da ist „Rock im Park“ mit einem Rekord 2025 von 89 500 Besuchern an jedem der drei Tage noch nicht dabei.
Als „der grünste Konzartsaal Europas“ wird der Luitpoldhain bezeichnet. Hier steigen im Sommer zwei riesige Klassik-Open-Airs mit den beiden großen Nürnberger Orchestern. (Foto: Kristof Göttling)
Gerade startet „ION“, eines der ältesten Kirchenmusikfeste überhaupt. Vor 74 Jahren als Internationale Orgelwoche Nürnberg gegründet, ist es längst ein Festival für geistliche Musik und mehr. „Es gibt fast nichts, was es nicht geht“ – von Klassik bis Electro und Heavy-Metal a cappella in Kirchen, sagt Leiter Moritz Puschke. Unter dem Jahresmotto „Wo ist Frieden“ verknüpft etwa am 4. und 5. Juli der Schauspieler Charly Hübner Schuberts „Winterreise“ und Nick Cave in der Sebaldskirche, wo im Barock Pachelbel als Organist wirkte. Georgelt wird bei ION immer noch: Die Konzerte von Anna Lapwood, der „Queen der Orgel“ aus der Royal Albert Hall, am 28. und 29. Juni, werden als „glitzernde Großereignisse“ angekündigt.
Ein wahres Massen-Event ist das „Bardentreffen“: 200 000 Besucher werden von 1. bis 3. August erwartet, wenn auf acht Bühnen in der ganzen Innenstadt 90 Konzerte steigen: Weltmusik-Stars wie Badi Assad aus Brasilien oder das Rap-Projekt Aita mon Amour aus Casablanca sind ebenso da wie die deutschen Lieddichterinnen Alin Coen und Paula Carolina. Zudem dürfen sich Hunderte Straßenmusiker frei in der Stadt aufstellen.
Kaum weniger gut besucht und ebenso gratis sind die zwei Klassik-Open-Airs mit den beiden großen Nürnberger Orchestern im Luitpoldhain, dem „grünsten Konzertsaal Europas“. Im Vorjahr rückten 125 000 Menschen mit Klappstühlen und Decken an. Heuer spielt beim „größten Picknick der Stadt“ die Staatsphilharmonie am 27. Juli ein Familienkonzert und abends zum Thema „Goldene Zeiten“, am 9. August widmen sich die Nürnberger Symphoniker der Musik aus den Metropolen der Welt.
Am Ende noch ein bisschen Geisterbahn: Voodoo Jürgens singt „Heite grob ma Tote aus“ in der Katharinenruine. (Foto: Désirée Pezzetta)
Dagegen wirkt das „NueJazz“-Festival (ab 17. Oktober) mit seinen Szene-Stars schon fast für einen eingeschworenen Zirkel. Wobei man heuer mit den Ur-Electro-Hipstern Kruder & Dorfmeister wieder beweisen will: „Wir sind sexier als ein normales Jazz-Festival!“. Und anders als „Rock im Park“ zieht auch das „Nürnberg Pop Festival“ weniger Party-Volk, als Musikkenner an. Immerhin ist es das größte „Showcase Festival“ Süddeutschlands, auf dem Entdeckungen zu machen sind wie diesmal (9. bis 11. Oktober) Aysanabee, der erste indigene Act an der Spitze der kanadischen Alternative-Charts. Insgesamt gibt es 100 Konzerte an 21 urbanen Locations – zur großen Freude von Organisator David Lodhi darf auch wieder in der Katharinenruine gespielt werden.
Im Herbst ist es dann noch dunkler, clubbiger hier als bei den Sommer-Open-Airs, bei denen wegen der Anwohner schon um 22 Uhr der Stecker gezogen wird. Nach ein paar „Ohrwaschlkräulern“ und „L’amourhatscher“ von Voodoo Jürgens wird des aber auch im Juni gegen Ende schummriger. Rotes Licht illuminiert Bühnennebel und Ruinenwände – und pünktlich zu „Heite grob ma Tote aus“ ist Geisterbahnstimmung.