Premierminister Starmer wollte die Sozialkosten in den Griff bekommen. Nun zwingt ihn der linke Labour-Flügel zu einem Rückzieher mit schwerwiegenden Folgen.

Premierminister Keir Starmer verlor mit seinen sozialpolitischen Reformplänen den Rückhalt eines Teils seiner Labour-Fraktion. Premierminister Keir Starmer verlor mit seinen sozialpolitischen Reformplänen den Rückhalt eines Teils seiner Labour-Fraktion.

Maria Unger / Handout

Grossbritanniens Sozialstaat steht vor grossen Problemen: Weil immer mehr Erwerbstätige wegen körperlicher und vor allem psychischer Leiden nicht mehr arbeiten können, explodieren seit der Pandemie die Sozialkosten.

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Premierminister Keir Starmer hat versprochen, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Wie einst Tony Blair oder Gerhard Schröder in Deutschland glaubte er, er bringe als Sozialdemokrat das nötige politische Kapital mit, um schmerzhafte Sozialreformen im langfristigen Interesse durchzusetzen. Im Frühling kündigte er Leistungskürzungen für Invalide an – verbunden mit Anreizen zum Wiedereinstieg ins Erwerbsleben. «Als Labour-Partei glauben wir an die Würde von Arbeit», sagte Starmer damals im Unterhaus.

Handfeste Rebellion

Doch am Freitag nun vollzog Starmer die bisher spektakulärste Kehrtwende seiner knapp einjährigen Amtszeit. In der Labour-Fraktion war der Widerstand gegen die Sozialkürzungen vor der am Dienstag geplanten Abstimmung zu einer handfesten Rebellion angewachsen. Sage und schreibe 126 Abgeordnete unterzeichneten einen Antrag, um die Gesetzesrevision zu stoppen. Damit wäre Starmer auf die Stimmen der Opposition angewiesen gewesen, um die Vorlage durchzubringen – obwohl Labour im Unterhaus eigentlich über eine riesige Mehrheit von 174 Abgeordneten verfügt.

Nachdem Starmer die Sozialreform zuerst zur Vertrauensfrage hat erklären wollen, kommt er den Rebellen nun weit entgegen. Laut einem Brief, den die Sozialministerin Liz Kendall mitten in der Nacht an die Fraktion verschickte, sollen etwa die Sparmassnahmen bei den Ergänzungsleistungen für Invalide bloss für künftige Antragsteller in Kraft treten. Wer also heute bereits eine Rente erhält, bleibt von den Kürzungen verschont. Zudem werden andere Leistungen entgegen ursprünglichen Plänen nicht eingefroren, sondern weiterhin der Teuerung angepasst.

Die Rebellen hatten argumentiert, die Kürzungen auf dem Buckel der sozial Schwächsten widersprächen den grundlegenden Werten der Labour-Partei und könnten Behinderte mitunter sogar von der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit abhalten, anstatt sie wie geplant zur Arbeit zu ermuntern. Starmer hofft, dass er mit den Konzessionen die Mehrheit der Rebellen an Bord geholt hat. Allerdings lehnt ein harter Kern die Kürzungen auch für künftige Rentenbezüger ab, da dies ein Zweiklassensystem schaffen würde, weshalb der Ausgang der Abstimmung nach wie vor als ungewiss gilt.

Dritte Kehrtwende in Folge

Fest steht, dass die Kehrtwende für die Regierung handfeste Folgen hat. So wird die abgespeckte Reform jährlich rund 3 Milliarden Pfund (3,3 Milliarden Franken) weniger einsparen als erhofft. Nun muss die Schatzkanzlerin Rachel Reeves diesen Betrag mit anderen Sparmassnahmen oder Steuererhöhungen kompensieren, um die ohnehin höchst angespannten Staatsfinanzen im Lot zu halten.

Beträchtlich sind auch die Kosten für Starmers Autorität. Denn der Premierminister hat nun bereits zum dritten Mal innerhalb eines Monats eine Kehrtwende vollzogen. So setzte er trotz anfänglicher Ablehnung doch eine nationale Untersuchungskommission zur Beleuchtung des Skandals um pakistanischstämmige «Grooming-Gangs» ein. Zudem machte er die Streichung der staatlichen Heizkostenzuschüsse für Rentner teilweise wieder rückgängig, welche die Regierung im letzten Sommer noch gegen enorme Widerstände durchgeboxt hatte.

Damit sendet Starmer ein Signal der Schwäche aus: Ist der parteiinterne Druck hoch genug, knickt der Premierminister ein. Der linke Parteiflügel dürfte sich nun zu weiteren Rebellionen ermutigt fühlen. Innerhalb der Labour-Partei umstritten sind etwa auch Verschärfungen der Migrationspolitik oder Kürzungen bei der Entwicklungshilfe, mit denen Starmer die militärische Aufrüstung teilweise finanzieren will.

Explodierende Kosten

Zudem könnte der Druck auf die Regierung steigen, weitere sozialpolitische Konzessionen zu machen. Jüngst hat die rechtsnationale Reform-Partei von Nigel Farage, die in den Umfragen inzwischen deutlich vor Labour und den abgeschlagenen Konservativen liegt, die Ausdehnung der staatlichen Kinderzulagen gefordert. Auch weil sich die Labour-Regierung von Farage nicht links überholen lassen will, dürfte ihr sozialpolitischer Reformeifer nun erlahmen.

Ein Blick auf die Zahlen offenbart die Herausforderungen, vor denen der Sozialstaat steht: 4 Millionen Briten – das sind 10 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren – erhalten derzeit Sozialleistungen, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können. Bei den Jungen ist der Anteil noch höher, vielfach sind psychische Probleme der Grund für die Arbeitsunfähigkeit.

2019, im Jahr vor der Pandemie, gab Grossbritannien knapp 25 Milliarden Pfund (28,5 Milliarden Franken) zur Unterstützung von Erwachsenen aus, die aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können. Im laufenden Jahr sind 45 Milliarden Pfund veranschlagt, und für 2029 werden 55 Milliarden Pfund prognostiziert. Das wäre mehr als eine Verdoppelung der Ausgaben innert zehn Jahren und deutlich mehr als die 39 Milliarden Pfund, die Grossbritannien heute für die Verteidigung ausgibt.