DruckenTeilen
Nato und Deutschland halten Abermilliarden für die Rüstung parat. Doch ein Kenner des Ukraine-Kriegs fürchtet einen Irrweg.
Vilnius – Die Nato-Staaten haben bei ihrem Gipfel gerade erst massive Militärausgaben beschlossen, die EU will mit Investitionsprogrammen helfen – Deutschland ringt sogar schon seit Monaten um den richtigen Weg, Hunderte Schulden-Milliarden für die Verteidigung anzulegen. Aber weiß die Politik überhaupt, was sie da tut? Teure Fehler bei der Rüstung könnten Russlands Aggression neue Türen öffnen, die Frage ist durchaus ernst.
Zweifel äußert ein Mann, der so guten Einblick in die Lage an der Front im Ukraine hat wie wenige andere Menschen in den EU-Staaten. Jonas Öhman liefert mit seiner NGO blue/yellow seit über zehn Jahren von Litauen aus „nicht-tödliche Militärausrüstung“ an kämpfende Einheiten der Ukraine – und war auch selbst in Frontnähe unterwegs. Er warnt im Gespräch mit dem Münchner Merkur: „Deutschland rühmt sich, Milliarden für die Rüstung bereitzustellen. Klingt toll, oder? Aber wo es unlimitierte Mittel gibt, wächst auch die Tendenz zu Ineffizienz.“
blue-yellow-Gründer Jonas Öhman vor einer Stellwand mit Militärabzeichen – Gaben von ukrainischen Einheiten, mit denen die NGO arbeitet. © Florian Naumann
Öhman hat sehr konkrete Ratschläge. Seine wichtigste Empfehlung beim Gespräch im blue/yellow-Hauptquartier in Vilnius, zwischen Dankesurkunden ukrainischer Einheiten und Kriegs-„Souvenirs“ wie Teile und Hüllen im Krieg verschlissener Waffen: „Vielleicht sollten sie besser kleinere Lösungen mit einer viel größeren Erfolgswahrscheinlichkeit ins Auge fassen.“
Neue „Todeszone“ im Ukraine-Krieg: Die Lage verändert sich – doch lernen Nato und Deutschland?
Blue/yellow kennt den Bedarf im realen Kriegsgeschehen: Die Organisation erhält regelmäßig Hilfsanfragen direkt von der Front. „Wir arbeiten mit verschiedenen Personen, Kommandeuren und Einheiten“, sagt Öhman. Auch mit Kontaktleuten, die ihrerseits wiederum enge Kontakte zu mehreren Einheiten pflegen. „Sie versorgen uns mit einem stetigen Fluss an Informationen über Situationen und Bedarfe.“
Ein Beispiel für eine wichtige Erkenntnis der vergangenen Monate laut Öhman: An den Fronten im Ukraine-Krieg habe sich eine „Todeszone“ von etwa 30 Kilometer Breite ausgebildet. Drohnenschläge seien in diesem Bereich eine ständige Bedrohung – „die Lage hat sich radikal verändert“, sagt er. Ein Grund ist Glasfaserdrohnen-Technik – solche Fluggeräte sind über große Distanzen steuerbar. Und mehr oder minder immun gegen zuvor erfolgreich genutzte elektronische Störmanöver.
Dieses Foto zeigt laut Öhman einen ukrainischen Soldaten mit einem „Drohnen-Jammer“ aus Litauen auf dem Rücken – die Technik erschwerte Drohnenattacken. Doch die Lage verändert sich rasch. © blueyellow/fkn
Die Entwicklung steht exemplarisch für ein größeres Muster im Krieg der Gegenwart. „Im Grund formt sich der Krieg beständig selbst neu“, erklärt Öhman. „Es gibt die Tendenz zu glauben, dass große Lösungen gut sind – weil man auf Synergieeffekte oder Großbestellungsrabatte setzt. Aber die Realität ist, soweit ich das sagen kann: Dezentralisierte Prozesse und Verantwortung vor Ort schaffen viel bessere Ergebnisse.“
Rüstungs-Milliarden gegen Putins Bedrohung: Insider plädiert für „Durchschnittsware“
Die Ukraine agiere bereits so. Auch aus der Not heraus; erfahrenes militärisches Personal ist knapp. Viele Unteroffiziere müssten aktiv Verantwortung übernehmen. „Wir sehen ganz klar, dass jede Brigade in der Ukraine ihr eigenes Mandat zu handeln hat. Und oft sind die Lösungen besser als alles, was man sich von zentraler Stelle aus hätte ausdenken können.“ Dafür sei Vertrauen nötig – „die Leute müssen handeln und eigene Risiken eingehen können. Das größte aller Probleme in unserem Militär ist die traditionelle Struktur. Man braucht natürlich solche Anteile. Aber dieses Grundkonzept veraltet zusehends.“
Was bedeutet das für die Planung der Aufrüstung? Nicht große, über lange Jahre angelegte Produktionsserien seien Trumpf, sagt Öhman – sondern „Durchschnitts“-Ware. Man brauche nichts Extravagantes, um Effekt zu erzielen. „‚Es muss perfekt sein, es muss lizenziert sein‘“, ahmt der Mann im olivgrünen Pullover gängige Sätze in der Rüstungsbeschaffung nach. „Bla, bla, bla. Nein, das stimmt nicht, jedenfalls nicht unbedingt. Man muss die Ausrüstung benutzen können.“
„Deutschland könnte Milliarden für eine ‚coole‘ Drohne investieren – und in einem halben Jahr ist sie überflüssig.“
Drohnen seien im Krieg in der Ukraine aber natürlich nicht nur ein Beispiel für Entwicklungen, sondern auch ein Schlüsselinstrument. Es laufe eine Phase des Experimentierens. „Eine Drohne ist das ultimative Werkzeug, um was-auch-immer zu erreichen“, meint der erfahrene Helfer. Bombenabwürfe, gezieltes Schussfeuer, Aufklärung seien gleichermaßen möglich und denkbar. „Eine Drohne ist ein Teil des Gesamtsystems.“ Zuletzt hat die britische Armee ihre Planungen umgestellt – um wesentlich stärker auf Drohnen zu setzen.
Aber: „Drohnentechnik entwickelt sich praktisch jede einzelne Woche weiter“, betont Öhman. „Es ist unmöglich, die ultimative, finale Drohne zu ersinnen.“ Was heute funktioniere, habe vielleicht eine Halbwertszeit von einem halben Jahr. Er habe bereits einige Negativbeispiele von für europäische Armeen entwickelten Drohnen gesehen, die bestenfalls als Prototypen funktionierten. Deutschland etwa investiere in Aufklärungsdrohnen. In der Ukraine allerdings seien Drohnen zu Angriffszwecken gefragt.
Drohnen im Ukraine-Krieg: Artillerie, Scharfschützen, Minen – versenkt Deutschland seine Milliarden?
„Wir müssen verstehen, dass Drohnen die Rolle der Artillerie übernehmen. Drohnen übernehmen die Rolle von Scharfschützen. Sie dienen auch als Minenersatz.“ Drohnen seien nur ein „Gefäß“ für verschiedene Nutzungen, betont Öhman. Ihr Einsatzzweck werde erst in einem zweiten Schritt bestimmt. „Und ich befürchte, dass Deutschland Milliarden in die Entwicklung irgendeiner ‚coolen‘ Drohne investiert, die sehr bald völlig überflüssig sein wird.“ Die Rüstungsindustrie werbe freilich mit ganz anderen Versprechen.
„Was Deutschland und andere nicht verstehen: Weniger ist manchmal mehr.“ Probleme ließen sich nicht immer lösen, indem man Geld darauf werfe, sagt Öhman. Was für Fragen wie das Gesundheitssystem gelte, gelte in der modernen Kriegsführung umso mehr. „Was ich über die Zeit gelernt habe: Viel Geld ist ein Fluch. Ein wenig Geld hingegen kann ein Segen sein.“ Oft sei es Mangel, der Kreativität begünstige. Die USA und ihre Verbündeten seien womöglich nicht zufällig mit einer milliardenschweren Militärmission in Afghanistan gescheitert. Und in ihrer Gegenoffensive habe die Ukraine enorm teure Panzer verloren – weil es an eher banalem Minenräumgerät fehlte.
Lehren aus dem Ukraine-Krieg: „Moderne Kriegsführung muss flexibel, tödlich und sehr günstig sein“
Was also tun? Wäre eher ein Entwicklungs- oder Produktionsmechanismus statt fertiger Fabrikware die Lösung? Öhman bejaht. „Was die Produktion angeht, sollte jede Einheit selbst in der Lage sein, Anpassungen an der Ausrüstung vorzunehmen.“ Das bringe Effizienz, spare Zeit und liefere bessere Ergebnisse. „Moderne Kriegsführung muss sehr, sehr flexibel sein, sie muss sehr tödlich und effizient sein – und sehr, sehr preisgünstig.“ Auch CDU-Experte Roderich Kiesewetter plädierte im Gespräch mit unserer Redaktion mindestens für eine Mischung von Ansätzen.
Panzer, Drohnen, Luftabwehr: Waffen für die UkraineFotostrecke ansehen
Der kurzfristige Ratschlag des NGO-Gründers Öhman an Deutschland und die Bundeswehr lautet: Studiert die Arbeit der Ukraine – etwa mit Beobachtern vor Ort. „Man kann nicht davon ausgehen, etwas zu verstehen, wenn man es nicht selbst gesehen hat“, mahnt Öhman. „Wir glauben, zu verstehen, was passiert. Und wir liegen damit so falsch. Jedes Mal, wenn ich in die Ukraine fahre, lerne ich etwas Neues.“ Immerhin: Von den Vertretern der Bundeswehr in Litauen hat Öhman ein positives Bild gewonnen: Es gebe in Deutschland den Anspruch, eine „moderne, zeitgemäße, effiziente Armee“ aufzubauen. (fn)