Russlands Krieg gegen die Ukraine ist in eine Phase eingetreten, die weniger von spektakulären Offensiven als von einem zermürbenden Dauerdruck entlang der gesamten Front geprägt ist. Der Kreml setzt dabei auf die Taktik des permanenten Druckes – militärisch, diplomatisch und psychologisch.

Während Wladimir Putin aktuell große Worte bemüht, so zuletzt mit dem plakativen Satz: „Wo der russische Soldat seinen Fuß setzt, ist Russland“, bleiben die tatsächlichen Geländegewinne begrenzt, schwer erkauft und von operativer Fragilität. Moskau setzt dabei nicht auf operative Durchbrüche unter enormem Ressourcenaufwand, sondern agiert geschickt im Rahmen begrenzter personeller, ausrüstungstechnischer und politischer Möglichkeiten. Denn der entscheidende Part des machtpolitischen Kalküls Russlands liegt jenseits des Militärischen begründet – in diplomatischen Manövern, bewusst verzögerten Verhandlungen, politischer Zermürbung der Opponenten und einem taktischen Spiel auf Zeit.

Die Taktik des langen Atems umfasst nicht nur den fortlaufenden militärischen Druck, sondern auch den Versuch, die westliche Unterstützung in einem langsamen, aber stetigen Prozess zu zermürben. Der Kreml hofft auf die mangelnde Belastbarkeit des Westens und erwartet, dass fortgesetzte Operationen und ständige Eskalationen den politischen Willen zur Unterstützung der Ukraine schrittweise untergraben.

Die Logik des schrittweisen Vorrückens

Im Grenzgebiet zur ukrainischen Region Sumy, einem derzeit viel diskutierten Operationsfeld, zeigen sich die strukturellen Grenzen der russischen Vorstöße exemplarisch. Russische Truppen konnten in den letzten Wochen einige Kilometer vordringen, kleinere Ortschaften besetzen und ihre operative Reichweite geringfügig ausweiten. Doch selbst optimistische russische Schätzungen sehen kaum mehr als vier bis fünf Kilometer weiteres Vordringen als realistisch an. Ein Vorstoß in Richtung der Regionalhauptstadt Sumy bleibt militärisch außer Reichweite.

Russische Drohnen mit Glasfaserkabeln und einer Reichweite von angeblich 50 Kilometern mögen auf dem Papier eine Bedrohung für die ukrainischen Nachschublinien darstellen. In der Praxis jedoch scheitern diese Konzepte an den logistischen Gegebenheiten. Wie der Militäranalyst Ruslan Lewijew, Gründer des Conflict Intelligence Team – einer russischen Plattform für investigativen Journalismus mit Fokus auf die russischen Streitkräfte –, treffend feststellt, erfordert die effektive Überwachung und Kontrolle eines so großen Gebiets eine Drohnendichte, die sowohl operativ als auch personell weit über die russischen Kapazitäten hinausgeht. Obwohl die Drohnentechnologie Russlands aktuell in ihren Möglichkeiten begrenzt ist, könnte eine verstärkte Entwicklung in diesem Bereich die Dynamik der Kriegsführung weiter verändern. Die Herausforderung für die Ukraine besteht weniger in der Blockade ihrer Nachschublinien als in der kontinuierlichen Anpassung ihrer Verteidigungsstrategien an neue Technologien. Die Vorstellung, Russland könne durch einzelne technologische Fortschritte die ukrainische Logistik entscheidend blockieren, entpuppt sich bei genauerer Analyse als illusorisch, so Lewijew.

In der Region Pokrowsk, einem der zentralen Kampfgebiete im Donbass, wird die russische Kriegsführung durch ähnliche operative Probleme geprägt. In diesem Bereich konzentriert sich Russland auf eine Mischung aus Artilleriefeuer, Luftangriffen und sporadischen Infanterievorstößen. Die Region hat strategische Bedeutung, da sie eine wichtige Versorgungs- und Kommunikationsachse zwischen westlich und östlich gelegenen ukrainischen Frontlinien darstellt. Russische Truppen versuchen, durch stetigen Druck auf die Verteidigungsstellungen in dieser Region, insbesondere auf die wichtigen Städte wie Pokrowsk, die ukrainischen Linien zu zerschlagen und einen weiteren Vorstoß in Richtung der Agglomeration von Slowjansk und Kramatorsk zu ermöglichen.

Ähnliche strukturelle Begrenzungen prägen auch die russischen Operationen an anderen Frontabschnitten. Im Raum Charkiw, bei Kupjansk oder Torezk, folgen die russischen Angriffe einem bekannten Muster: kleine Vorstöße, häufig mit leichten Kräften, unterstützt von vereinzelten Panzern oder improvisierten Kolonnen aus Zivilfahrzeugen. Der spektakulär gescheiterte Angriff einer russischen Panzerkolonne auf Torezk illustriert die qualitativen Schwächen der russischen Taktik und legt zugleich ihren Kern offen. Gänzlich unabhängig von operativen Erfolgen zielt die russische Armee auf kontinuierlichen Druckaufbau und kalkuliert hohe Verluste ein. Das zeigt sich auch in der zunehmenden Bereitschaft, statt auf großangelegte Panzeroperationen auf Infanterieangriffe mit geringer Panzerdeckung zu setzen. Diese Taktik ist allerdings keineswegs Ausdruck eines strategischen Umdenkens, sondern vielmehr das Resultat eines schlichten Mangels an gepanzerter Technik.

Russlands Rüstungsindustrie zwischen Mythos und Realität

Die russische Propaganda spricht von Produktionskapazitäten, die angeblich bis zu 1500 neue Panzer pro Quartal erreichen. Eine unabhängige, monatelang erarbeitete Untersuchung von Conflict Intelligence Team kommt jedoch zu einem deutlich realistischeren Wert. Demnach kann Russland derzeit etwa 250 bis 300 neue Panzer pro Jahr produzieren.

Diese Zahl ist für die langfristige Kriegsführung von entscheidender Bedeutung, denn die sowjetischen Reserven sind weitgehend aufgebraucht oder irreparabel beschädigt. Doch Russlands Kriegsführung hat sich längst an diese strukturelle Schwäche angepasst. Die Armee ersetzt verlorene Schlagkraft nicht mehr primär durch Technik, sondern durch Masse an Menschen.

Die Ressource Mensch als Kriegstaktik

Russland rekrutiert nach wie vor monatlich zwischen 30.000 und 40.000 neue Soldaten. Ein repressives innenpolitisches Klima und finanzielle Anreize von bis zu zwei Millionen Rubel Prämie bei Vertragsabschluss sorgen dafür, dass der Zustrom an Rekruten, vor allem aus wirtschaftlich depressiven Regionen, stabil bleibt. Für viele junge Männer aus strukturschwachen Gebieten ist der Militärdienst die einzige Chance auf sozialen Aufstieg oder Entschuldung. Die Hoffnung, durch einen kurzfristigen Kriegseinsatz schnelles Geld zu verdienen, hält den Personalfluss aufrecht. Auch wenn die Produktion neuer Panzer nicht ausreicht, um die Verluste auch nur annähernd auszugleichen, kann es sich der Kreml leisten, Soldaten zu verschleißen. Das ist die eigentliche Tragik dieses Krieges: Der menschliche Faktor ist in der russischen Kriegsführung zunehmend zur statistischen Größe degradiert worden.

Die Kombination aus technologischem Mangel und personellem Überfluss hat zu einer schleichenden Transformation der russischen Kriegsführung geführt. Das russische Kommando setzt nicht so sehr auf eine entscheidende Sommeroffensive, sondern vielmehr auf ein permanentes, zermürbendes Vorrücken.

Die Schwächen der ukrainischen Verteidigung

Während Russland auf Masse setzt, zeigen sich auf ukrainischer Seite strukturelle Schwächen, so insbesondere bei der Verteidigung von peripheren Frontabschnitten. Die Maxime, Verteidigung möglichst lange aufrechtzuerhalten, führt immer wieder zu überhöhten Verlusten und erschwert geordnete Rückzüge. Selbst ukrainische Frontberichte und Analysen kritisieren dieses Vorgehen des Kommandos. Ein taktischer Rückzug auf vorbereitete Verteidigungspositionen wäre in vielen Fällen militärisch sinnvoller als symbolhaftes Durchhalten, die den ukrainischen Kräften die Abwehrmaßnahmen erschwert. Hinzu kommt, dass an der nördlichen Grenze der Ukraine, insbesondere im Raum Sumy und Charkiw, Verteidigungsanlagen in den vergangenen Monaten nicht in ausreichendem Maße ausgebaut wurden – ein Versäumnis, das Russland überhaupt erst die schnellen Vorstöße ermöglichte.

Die Zeit ist auf Putins Seite

Putins Strategie ist keine der schnellen Siege. Es ist eine Strategie des Aushungerns, des Zermürbens, des politischen und militärischen Dauerbeschusses. Putins Krieg hat solcherart keine zeitliche Begrenzung und soll bis zur Ermüdung des Westens und dem Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung unter der schieren Last der Dauerangriffe dauern.

Russlands Schwäche liegt dabei weniger in den Rüstungszahlen als in der technologischen Stagnation und operativen Trägheit. Doch die westliche Hoffnung, der Kreml werde aus materieller Erschöpfung heraus zum Einlenken gezwungen, könnte sich als trügerisch erweisen. Die russische Kriegsführung hat sich längst auf diesen Zustand der mittleren Intensität eingestellt und sie kann ihn, so scheint es, noch lange aufrechterhalten. Ein Zustand der militärischen Pattsituation könnte nicht nur den Ukraine-Konflikt in die Länge ziehen, sondern auch geopolitische und ökonomische Belastungen für die westlichen Unterstützer mit sich bringen.

Die zentrale strategische Frage bleibt: Wird es der Ukraine gelingen, sich gegen die russische Strategie des langen Atems nachhaltig zu behaupten oder wird die Kombination aus militärischem Dauerdruck, personeller Auszehrung und ökonomischer Erschöpfung das Kräfteverhältnis schleichend zu Moskaus Gunsten verschieben?

Solange die westliche Unterstützung nicht substanziell ausgeweitet wird – insbesondere im Bereich Luftverteidigung, Munitionsversorgung und strategischer Resilienz – droht der Krieg in eine zermürbende Pattstellung zu gleiten, die langfristig Moskau in die Karten spielt. Die Zeit ist dank westlicher Passivität auf Putins Seite.

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