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Der Unmut über Korruption und Machtmissbrauch bringt Serbiens Jugend auf die Straße. Der Staat antwortet mit Gewalt und Drohungen.
Belgrad – Eine der größten Protestkundgebungen seit den 1990er-Jahren hat Serbien am Samstag (28. Juni) erschüttert. Rund 140.000 Menschen versammelten sich nach Schätzungen unabhängiger Beobachter auf dem Slavija-Platz in Belgrad. Die Polizei nennt eine deutlich niedrigere Zahl von 36.000 Teilnehmenden. Angeführt von Studierenden, die ein Ultimatum zur Ansetzung vorgezogener Parlamentswahlen gesetzt hatten, richtete sich der Protest vor allem gegen die autoritäre Politik von Präsident Aleksandar Vucic, der Serbien seit über einem Jahrzehnt führt.
Serbien probt den Aufstand – Verletzte und Festnahmen
Die Kundgebung, keineswegs die erste in diesem Jahr, verlief zunächst friedlich: Die Demonstrierenden sangen die serbische Nationalhymne, berichtet der ORF, hielten eine 16-minütige Schweigeminute für die Opfer des Einsturzes eines Bahnhofdachs in Novi Sad im November 2024 und schwenkten Flaggen der EU und Serbiens.
Gegen 22 Uhr kippte die Stimmung. Laut Innenminister Ivica Dacic sei es im Umfeld des Pionirski-Parks zu „gezielten Angriffen“ auf Polizisten gekommen, berichtet die serbische Zeitung Kurir 48 Beamte seien verletzt worden, einer davon schwer – mit Schädel-Hirn-Trauma und Jochbeinbruch. Insgesamt wurden bis Sonntag 77 Personen festgenommen, 38 davon in Untersuchungshaft genommen, konstatiert das News-Portal koha.net.
Weitere Berichte schildern, schreibt die AFP, dass es nach einem grundsätzlich friedlichen Ablauf vereinzelt zu Würfen mit Leuchtraketen, Eiern und Plastikflaschen kam. Die Polizei setzte Tränengas, Pfefferspray und Schlagstöcke ein – die Lage eskalierte.
Putins Parade in Moskau: Russland feiert „Tag des Sieges“ mit gigantischer MilitärparadeFotostrecke ansehenVucics Rhetorik in Anbetracht von Massenprotesten in Serbien: „Farbrevolution“ und „ausländische Drahtzieher“
Statt auf Deeskalation zu setzen, verschärfte Präsident Vucic seine Tonlage deutlich. In einer teils aggressiven Rede warf er den Demonstrierenden vor, so der Kurir, „die Verfassung zu missachten“ und „Terroristen“ zu sein, die zu Gewalt aufgerufen hätten. Er sprach von einem „direkten Aufruf zum Bruderkampf“ und forderte vom Justizapparat: „Die Zeit der Verantwortung ist gekommen.“
Auch serbische Nachrichtendienste seien laut Vucic in Besitz von Informationen, die belegen sollen, dass die Gewalt „fünf Tage im Voraus“ geplant worden sei, zitiert ihn die serbische Politika. Beweise legte er dafür allerdings nicht vor. Die Protestbewegung, vor allem die Studierenden, wiesen die Vorwürfe scharf zurück.
Dass Vucic in der Folge öffentlichkeitswirksam Investitionsprojekte anpreist und Infrastrukturfortschritte verkündet, erscheint vielen Bürgern und Beobachtern in Serbien wie eine Inszenierung. Während Demonstranten in Polizeigewahrsam sitzen, preist der Präsident, berichtet beispielsweise der Kurir, den Bau neuer Autobahnkilometer und eine Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Subotica an. Es ist eine bereits oft von seinen Gegnern kritisierte Strategie, die Vucics Herrschaftsform charakterisiert: Effizienzpropaganda und Ablenkung von Missständen durch vermeintliche Modernisierung.
Eskalation statt Deeskalation: Serbiens Präsident Aleksandar Vucic bezeichnet die Demonstranten in Belgrad als „Terroristen“. © Foto links: IMAGO / Anadolu Agency | Foto rechts: IMAGO / Aleksandar DjorovicZwischen Brüssel und Moskau: Vucics gefährlicher Spagat
Vucics politische Doppeldeutigkeit wird auch außenpolitisch deutlich. Zwar erklärt er wiederholt Serbiens europäischen Kurs, doch die Realität sieht anders aus. Sein Auftritt bei der Siegesparade in Moskau am 9. Mai und das betonte „strategische Bündnis“ mit Putin belasten Serbiens EU-Ambitionen erheblich.
Tonino Picula, EU-Parlamentsabgeordneter aus Kroatien und Beobachter für Serbien, kritisierte unlängst in der New Union Post scharf: „Vucic hat klar einen anderen Weg gewählt.“ Die Teilnahme an Putins Parade sei ein Affront gegen die europäischen Grundwerte, während Russland einen Angriffskrieg in Europa führe.
Serbiens Protestbewegung im Überblick
Quellen: tagesschau.de, Süddeutsche Zeitung, ORF, Reuters, AP News, euronews, taz, nau.ch, koha.net, politika.rs, kurir.rs, europeanwesternbalkans.com, The New Union Post.
Vucics Kritik an EU und geostrategisches Lavieren
Vucic reagiert auf die Kritik aus Brüssel gewohnt trotzig. So betonte er jüngst, so europeanwesternbalkans.com: „Ich wurde nicht in Riga oder Vilnius gewählt, sondern vom serbischen Volk.“ Gleichzeitig betont er in Gesprächen mit Putin die „Verteidigung der territorialen Integrität Serbiens“ und lehnt Sanktionen gegen Russland weiterhin ab.
Ferner zeigt sich: Während die EU mit ihrer Forderung nach Demokratisierung kaum durchdringt, sichert Moskau Vucic politische Rückdeckung und energetische Kooperation zu. So verhandelte Belgrad mit Gazprom, berichtete koha.net, über ein neues Gasabkommen – auch als Antwort auf westliche Sanktione.
Repression statt Dialog: Serbiens Zukunft steht auf dem Spiel
Anstatt auf Forderungen der Protestierenden einzugehen oder sich zumindest einem politischen Dialog zu stellen, reagiert das Regime mit Gewalt und pauschaler Kriminalisierung. Parlamentspräsidentin Ana Brnabic nannte die Studenten gemäß der Süddeutschen Zeitung gar „Terroristen“. Zugleich bleibt offen, wie viele Demonstrierende tatsächlich verletzt wurden, da unabhängige Zahlen fehlen und die Regierungsquellen keine transparente Auskunft geben.
Serbien droht in eine autokratische Erstarrung abzugleiten, während sich der Präsident als Garant der Stabilität inszeniert und systematisch kritische Stimmen unterdrückt. Die EU steht vor der Frage, ob sie weiterhin auf symbolische Dialogformate setzt oder endlich klare politische Konsequenzen zieht. Die Jugend Serbiens hat ihre Entscheidung längst getroffen: für Demokratie, gegen Korruption – und gegen ein System Vucic, das sich zunehmend an Moskau statt an Brüssel orientiert. (chnnn)