Ernest Hemingway schrieb einst, der Bankrott komme „allmählich und dann plötzlich“ – ein Bild, das sich auf die schwindende Führungsrolle der USA übertragen lässt. Die Reputation der Vereinigten Staaten als „Führer der freien Welt“ hatte bereits vor der Wiederwahl Donald Trumps gelitten, doch spätestens mit der Rückkehr von „America First“ ins Weiße Haus steht sie ernsthaft in Zweifel.
Es gab die Hoffnung, dass Trumps zweite Amtszeit durch einige konventionellere und moderatere Kräfte in seinem Umfeld gezähmt werden könnte – so wie es in gewissem Maße in seiner ersten Amtszeit geschah. Doch diese Illusion zerbrach spätestens mit der öffentlichen Demütigung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office, als Trump und sein willfähriger Vizepräsident J.D. Vance den bedrängten Verbündeten bloßstellten. Diese Szene symbolisierte den fundamentalen Wandel in der US-Außenpolitik: Amerikas Selbstverständnis als Verteidiger der liberalen Weltordnung ist Geschichte.
Die MAGA-Bewegung hat die Kontrolle übernommen. Ihr Politikverständnis basiert auf dem Prinzip des Nullsummenspiels – es gibt nur Gewinner und Verlierer, Stärke bestimmt das Recht. Die temporäre Aussetzung der US-Militärhilfe für die Ukraine zeigte, dass Trumps radikales Lager nicht nur rhetorisch, sondern auch in der Praxis das Sagen hat.
Der Niedergang der liberalen Weltordnung
Seit Franklin D. Roosevelt 1941 die Atlantik-Charta präsentierte, verstanden sich die USA als Garant einer regelbasierten Ordnung, die auf der Einsicht beruhte, dass wahre Stärke mehr ist als pure Macht. Führung bedeutet nicht, auf Angst zu setzen, sondern Loyalität zu gewinnen. Ein echter Leader wird nicht nur gefürchtet, sondern auch geachtet. Doch diese Tradition der amerikanischen Weltordnungspolitik ist unter Trump und der MAGA-Bewegung einer rücksichtslosen Machtpolitik gewichen.
Es ist eine grausame Ironie, dass dieser Wandel ausgerechnet im Oval Office besiegelt wurde – dem symbolischen Zentrum einer amerikanischen Außenpolitik, die jahrzehntelang auf multilaterale Kooperation setzte. Die Hybris der aktuellen US-Führung liegt darin, zu glauben, sie könne ihre Macht willkürlich einsetzen, ohne Konsequenzen zu fürchten. Doch wie Roosevelt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs warnte: „Internationale Anarchie zerstört jede Grundlage für den Frieden. Sie gefährdet entweder die unmittelbare oder die zukünftige Sicherheit jeder Nation, ob groß oder klein.“
Wie lange diese Phase des nationalen Egoismus in Washington andauern wird, ist ungewiss. Doch für Europa reicht es nicht, den Kopf über die Entwicklungen in den USA zu schütteln. Es muss endlich eigenständig handlungsfähig werden.
Europa war der Hauptnutznießer der amerikanischen Nachkriegspolitik. Nun muss es selbst Verantwortung übernehmen. Dabei gilt es, pragmatisch zu bleiben: Ein plumper Antiamerikanismus wäre falsch, denn die Werte des liberalen Westens sind in der US-Gesellschaft weiterhin lebendig. Doch Europa muss sich unabhängig absichern – militärisch, wirtschaftlich und politisch.
Europas Verteidigungsfähigkeit stärken
Europa muss dringend seine Fähigkeit zur eigenständigen Verteidigung ausbauen. Die EU-Mitgliedstaaten gaben bereits vor den jüngsten Beschlüssen in Berlin und Brüssel über 300 Milliarden Euro für Verteidigung aus – mehr als Russland. Doch diese Mittel sind ineffizient verteilt, es fehlen gemeinsame Strukturen und strategische Koordination.
Eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber Russland erfordert drei zentrale Maßnahmen. Erstens, gemeinsame Rüstungsprojekte, die in Europa entwickelt und produziert werden, idealerweise unter der Koordination eines europäischen Verteidigungskommissars. Zweitens, eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einen substanziellen Anteil ihrer Verteidigungsbudgets in gemeinsame Projekte zu investieren. Nur so lassen sich Doppelstrukturen vermeiden und Synergien schaffen. Drittens, neue europäische Kommandostrukturen, um unabhängig von einem US-geführten NATO-Oberkommando agieren zu können.
Überdies braucht Europa eine eigenständige nukleare Abschreckung. Ohne eine glaubwürdige atomare Verteidigungsstrategie bliebe der Kontinent durch aggressive Nuklearmächte wie Russland erpressbar. Frankreich und Großbritannien sind als die europäischen Nuklearmächte die Eckpfeiler einer solchen Strategie – Deutschland und Polen müssen als Schlüsselakteure eingebunden werden, um einen stabilen Rahmen für eine gemeinsame europäische Atomstrategie zu setzen.
Wirtschaftliche Resilienz
Donald Trumps protektionistische Handelspolitik bedroht Europas Wohlstand, insbesondere die deutsche Industrie. Ein möglicher Handelskrieg mit den USA könnte dramatische Folgen für Schlüsselbranchen wie die Chemie- und Automobilindustrie haben. Europa muss daher seine wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit stärken.
Ein zentraler Hebel ist der europäische Binnenmarkt. Der Bericht von Mario Draghi zeigt, dass interne Handelshemmnisse innerhalb der EU faktisch Zölle von bis zu 45 Prozent auf Güter und 110 Prozent auf Dienstleistungen bedeuten. Eine stärkere wirtschaftliche Integration könnte nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit Europas steigern, sondern auch helfen, Einbußen im Handel mit den USA auszugleichen.
Konkret könnte eine Steigerung des europäischen Binnenhandels um nur 2,4 Prozent ausreichen, um eine mögliche Reduzierung der Exporte in die USA um 20 Prozent zu kompensieren. Europa muss diese Chance nutzen und endlich die noch bestehenden internen Barrieren abbauen.
Demokratische Widerstandskraft: Freiheit im digitalen Zeitalter bewahren
Neben der sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Selbstbehauptung muss Europa auch seine demokratische Widerstandskraft stärken. Die Macht großer Technologieunternehmen, die durch Algorithmen Desinformation und gesellschaftliche Spaltung verstärken, ist eine ernsthafte Bedrohung für die demokratische Ordnung.
Wie in der analogen Welt muss auch im digitalen Raum gelten: Meinungsfreiheit bedeutet nicht das Recht auf bewusste Falschbehauptungen. Europa muss klare Regeln für digitale Plattformen setzen, um den demokratischen Diskurs zu schützen. Der zunehmende Einfluss von Milliardären wie Elon Musk auf die öffentliche Meinung ist eine Gefahr – sein radikaler Libertarismus verkennt, dass Freiheit ohne Verantwortung zur Anarchie führt.
Europa muss seinen eigenen Freiheitsbegriff verteidigen, der sich zwischen dem radikal-individualistischen Modell der USA und der autoritären sozialen Kontrolle Chinas bewegt. Bei uns endet die eigene Freiheit dort, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt. Diese Prinzipien müssen auch im digitalen Raum gelten.
Europas historische Verantwortung
Die Zukunft der liberalen Weltordnung entscheidet sich nicht mehr in Washington, sondern zunehmend in Europa. Der Kontinent muss seine Ressourcen bündeln und eine neue politische Heimat für den Westen schaffen.
Diese Aufgabe hat eine doppelte Dimension. Einmal muss Europa als Vorbild für eine freiheitliche, demokratische Gesellschaft dienen – Ronald Reagans „leuchtende Stadt auf dem Hügel“. Aber dann muss Europa sich gleichzeitig als führender Verteidiger der liberalen Ordnung positionieren – als neues „Arsenal der Demokratie“.
Die gegenwärtige Krise ist auch eine Chance. Europa muss seine Kräfte bündeln, um zu verhindern, dass der Rückzug Amerikas ein gefährliches Vakuum hinterlässt. Wenn Europa der Freiheit eine neue Heimat gibt, bleibt zumindest die Möglichkeit, dass die USA eines Tages zu ihren gemeinsamen Werten zurückkehren.
Der Autor ist CDU-Politiker und Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen und Chef der Staatskanzlei.