Abschied an der Volksbühne

Erobert euer Grab

Di 01.07.25 | 12:11 Uhr | Von Barbara Behrendt

Dramaturg Carl Hegemann nimmt am 27.07.2011 an der Mitgliederversammlung der "Gesellschaft der Freunde von Bayreuth" (GdF) in Bayreuth (Oberfranken) teil. (Quelle: Picture Alliance/David Ebener)

Picture Alliance/David Ebener

Audio: rbb24 Inforadio | 01.07.2025 | Barbara Behrendt | Bild: Picture Alliance/David Ebener

Neil Young, Eiscreme und jede Menge Textarbeit: Die Volksbühne verabschiedet sich in einem großen Fest mit zig Künstler:innen von ihrem wichtigsten Denker Carl Hegemann. Im Mai ist er mit 76 Jahren gestorben. Von Barbara Behrendt

Am 22. Juni hätte Carl Hegemann wieder zu seinem Freund Navid Kermani nach Spanien fliegen sollen, wo er neben nächtlichen Eiscreme-Exzessen auch gern mit den Kindern zur höchsten Wasserrutsche der Costa Brava gefahren ist. Am 3. Juli hätte er mit einem Freund beim Neil-Young-Konzert in der Berliner Waldbühne sitzen sollen.

Carl Hegemanns Terminkalender war voll, denn er wurde geliebt, von sehr vielen Menschen. Von Kindern mindestens genauso wie von philosophischen Denkern, Theoretikern und den vielen Künstler:innen an den Theatern landauf, landab – vor allem denen, die zwischen den 1990er Jahren und 2017 die Volksbühne geprägt haben. Doch Carl Hegemann ist am 9. Mai mit 76 Jahren gestorben.

Viele seiner Freunde und Weggefährten feiern ihn an diesem letzten Abend im Juni mit einem rauschenden Fest an der Volksbühne – mit kostenloser Eiscreme, mit viel Musik, mit Videoschnipseln aus seinen Arbeiten mit Christoph Schlingensief und mit seinen eigenen Texten, von denen man viele unbedingt einmal wieder zur Hand nehmen sollte.


„Als wäre das Theater ein Propaganda-Unternehmen“

Die Volksbühnen-Schauspielerin Katrin Angerer liest aus einem Hegemann-Manifest von 1993, das die Sehnsucht nach totalitärer Ordnung in jedem Menschen beschreibt – gegen die ein Theater wie die Volksbühne sich bestens aufgestellt hat. Die Volksbühne kam der Frage nach einem gültigen Leitbild nicht nach und erntete viel Unverständnis:

„Das zeigt sich auch in den Kritikern der Volksbühne, die uns gleichzeitig Verwirrung und fehlende Botschaften vorwerfen. Und sie fordern also Leitbilder und Ausgrenzung, als wäre das Theater ein Propaganda-Unternehmen mit der Aufgabe, das Richtige richtig zu zeigen. (…) Die an der Volksbühne geplante Auseinandersetzung mit totalitären Denk- und Verhaltensmustern wird keinen freiheitlich-demokratischen Konsens in schönen, unwirklichen Bildern beschwören, sondern Fehler machen. Das Theater muss Fehler machen, wenn es mehr sein will als funktionsloses Anhängsel umlaufender Idioten.“


Theater als politischer Denkraum und als Anarchie

Carl Hegemann hat die Volksbühne als philosophisches Mastermind geprägt, an der Seite von Christoph Schlingensief, Frank Castorf, René Pollesch, Bert Neumann. Während Dramaturg:innen heute eher intellektuelle Zuarbeiter:innen sind und Inszenierungen im Programmheft fürs Publikum häppchenweise aufbereiten, hat der Dramaturg und Philosoph Carl Hegemann immens dazu beigetragen, die Volksbühne zu dem zu machen, was sie ab den 1990er Jahren war: Ein Theater als politischer, philosophischer Denkraum, aber auch als Exzess, als Anarchie, als von allen systemerhaltenden Aufgaben befreite Kunst der Verschwendung.


Igor Levit, Alexander Scheer, Martin Wuttke

Hegemann konnte aus dem Stand heraus über Fichte, Hegel, Hölderlin, Schiller referieren, das aber sofort verbinden mit den großen Fragen des Lebens einerseits und der Popkultur andererseits. Genau das zeigt nun die bombastische Feier für ihn. Volksbühnen-Urgestein Silvia Rieger dröhnt mit der Band L.E.K.N. den ohrenbetäubenden Doors-Klassiker „When the music’s over, turn out the lights“, während die Scheinwerfer gleißen (Bühne und Regie des Abends verantworten Florian Lösche und Jette Steckel).

Igor Levit und Malakoff Kowalski spielen „The Weight oft he World is Love“, Alexander Scheer singt David Bowie. Ein großer Moment: Der Oldie-Chor von Union Berlin schmettert mit dem Publikum „Wir sind Union“ – schließlich war Hegemann ein leidenschaftlicher Union-Fan. Und: Christian Arbeit singt einen politischen Hit von Hegemanns Lieblingsmusiker Neil Young: „Keep on rocking in a free world“.


„Carl mag alle Menschen gleich“

Carl Hegemann war extrem neugierig, ungeheuer gesprächsbedürftig und redete mit jedem. Kinder waren ebenso seine besten Freunde wie Menschen mit oder ohne Bildung. Das vertonen die Schauspielerin Yasna Fritzi Bauer und Hegemanns Tochter Helene in einem gefühlvoll umgedichteten Song: „Carl war kein Misanthrop. Er mag alle Menschen gleich, egal ob schwarz oder weiß, egal ob arm oder reich. Denn vielleicht bist du ok.“ Er hatte Freunde in allen Altersstufen und blickte mit Hoffnung auf die neuen, jungen ungezügelten Künstler:innen an der Volksbühne: auf Florentina Holzinger, Bonn Park, Vegard Vinge.


Der Tod als Voraussetzung fürs Lieben

Etwas dunkler wird die Stimmung, als Soap&Skin nicht nur ihren Hit „Me and the devil“ singt, sondern auch am Flügel den Song „Vater“ anstimmt. Doch inhaltlich geht es in Hegemanns Texten, die hier zitiert werden, ohnehin viel ums Sterben, die Unsterblichkeit der Kunst, den Tod als die Voraussetzung von Leben und Lieben. Etwa in einem (jüngst veröffentlichten) Gespräch zwischen Hegemann und dem Philosophen Boris Groys, das an diesem Abend auszugsweise von Joachim Meyerhoff und Martin Wuttke gelesen wird: „Die Fragen, die ich hatte, haben sich in Luft aufgelöst. Und neue sind entstanden. Das ist sehr befriedigend.“ „Und woran liegt das?“ „Am Tod. Ist das geil.“


„Schmeißt das Geld weg!“

Und die Schauspielerin Karin Neuhäuser liest aus Hegemanns Text „Erobert euer Grab!“, in dem es heißt: „Das Theater fragt nicht nach dem Tod oder der Unsterblichkeit. Es fragt nach dem Leben.“ Überhaupt können die Titel und Bonmots seiner Texte programmatisch für sein Leben und Denken stehen: „Rettet die Marktwirtschaft, schmeißt das Geld weg!“ „Plädoyer für die unglückliche Liebe.“ „Zum Kunstwerk werden.“

Zum Schluss singen die Mitarbeitenden der Volksbühne ein wunderschönes Widerspruchslied, das Carl Hegemann vor 40 Jahren geschrieben hat: „Ich habe immer alles gut und prompt gemacht. Das hatten andere sich vorher ausgedacht. Ich fand das immer völlig normal. Nur dass nichts passierte, das war eine Qual. Denn es ist ein bisschen wenig, wenn gar nichts passiert. Darum wird jetzt mal was anderes probiert! Denn für gar nichts bin ich mir zu schade. Gar nichts bringt mich sehr in Wut. Ich kann ja alles akzeptieren, nur für gar nichts bin ich mir zu gut.“

Beitrag von Barbara Behrendt