Von Erich Kästner stammt der schöne Gedanke, dass man den Kakao, durch den man gezogen wird, nicht auch noch trinken solle. Europa säuft die Brühe gerade, als wäre es Champagner. Und man muss noch dankbar sein, dass sich bislang kein Staatsmann verletzt hat bei dem heiklen Versuch, auf der glitschigen Spur hinter dem US-Präsidenten eine gute Figur zu machen.

So weit ist es gekommen im europäisch-amerikanischen Verhältnis: Der deutsche Bundeskanzler feiert es als Erfolg, dass er beim Besuch im Weißen Haus nicht beleidigt wurde. Beim Treffen der G7-Industrienationen ist das wichtigste Thema die empfindsame Psyche Donald Trumps. Ein Nato-Gipfel wird so inszeniert, dass Trump längstens zweieinhalb Stunden auf Rüpeleien verzichten muss.

Der Generalsekretär des Bündnisses bejubelt die Bombenideen des Amerikaners derart schamlos, dass selbst Ludwig XIV. die Absicht durchschaut hätte. Und während Europas Staatenlenker sonst recht engagiert die Potentaten in Ungarn oder China kritisieren, hört man zu dem Versuch der US-Regierung, die eigene Demokratie und den Rechtsstaat zu demolieren, genau nichts.

Europäischer Kommission fehlt der Mut, sich zu behaupten

Gerade eben hat Kanada seine Pläne zurückgezogen, die großen US-Digitalkonzerne endlich gerecht zu besteuern, weil man Angst vor weiteren Strafzöllen hat. Solidarität aus Europa? Fehlanzeige. Vielmehr scheint auch die Europäische Kommission der anfängliche Mut zu verlassen, den Kontinent vor der durchgreifenden Macht der Internet-Multis zu schützen. Man fürchtet die Folgen, wenn die libertäre Milliardärsclique ihren präsidialen Zuschläger aktiviert.

So weit sind wir gekommen. Sonntags beschwören wir die europäischen Werte, montags biedern wir uns einer Regierung an, die eben diese Werte verachtet. Warum? Weil uns die Handelsbilanz wichtiger als die Selbstachtung ist? Wie billig wollen wir uns machen?

Weder ängstliche Zugeständnisse noch absurde Schmeicheleien werden uns dauerhaft vor sprunghaftem Jähzorn schützen. Und ein Kontinent, der jahrhundertelange Feindschaften durch eine regelbasierte Ordnung überwunden hat, darf sich nicht von den wechselhaften Launen eines Narzissten spalten lassen.

Europäisches Selbstbewusstsein nötiger denn je

21. Juni 2025: Präsident Donald Trump (r.) trägt seine MAGA-Kappe (

21. Juni 2025: Präsident Donald Trump (r.) trägt seine MAGA-Kappe („Make America Great Again“) und verfolgt mit Vizepräsident JD Vance im Weißen Haus den Einsatz von US-Bombern gegen den Iran.
(© IMAGO/ZUMA Press Wire)

Selbst wer den 47. US-Präsidenten für ein irritierendes, aber vergängliches Phänomen hält, muss sich einer Realität stellen, die man früher für eine Verschwörungstheorie gehalten hätte: Washington ist von Ideologen übernommen worden, die eine andere Weltordnung anstreben, ein illiberales, marktradikales, nationalistisches System, in dem die Interessen ganz weniger das Schicksal von sehr vielen bestimmen.

Es ist deshalb höchste Zeit, dem neuen US-Chauvinismus nun endlich mit europäischem Selbstbewusstsein zu begegnen. Ein Selbstbewusstsein, das auf Größe, Marktmacht und Wirtschaftskraft gründet, und ebenso auf kultureller Vielfalt, humanistischer Tradition und dem Primat des Rechts.

Das klingt nach Selbstüberschätzung? Ist es nicht. Die USA sind weit weniger mächtig, als es Trump und seine MAGA-besoffenen Anhänger wahrhaben wollen. Das Trump-Amerika ist ein hoch verschuldetes, in vielen Bereichen technologisch rückständiges Land, dessen Einfluss vor allem auf vier Faktoren beruht: militärische Stärke, Rohstoffe, digitale Monopole und eine atemberaubende Akkumulation privaten Kapitals.

Europa muss sich nicht verstecken

Wenn sich Europa seiner eigenen Stärken besinnt, kann es dem ungleich mehr entgegensetzen: Wir haben einen Binnenmarkt mit 400 Millionen Menschen und eine den USA vergleichbare Wirtschaftskraft, eine technologische Kompetenz, die in vielen Bereichen weltweit führend ist, und eine einmalig vielfältige Forschungs- und Bildungslandschaft.

Allein die durchgreifende Vollendung des europäischen Binnenmarkts hätte das Wachstumspotenzial, um den – unwahrscheinlichen – Ausfall des US-Handels zu kompensieren. Eine einheitliche und zielgerichtete Förderung europäischer Forschung, der Aufbau einer eigenen digitalen Infrastruktur und massive Investitionen in nachhaltige Technologien, etwa in den Bereichen Energie und Mobilität, können Europa zum Kontinent der Zukunft machen. Und wenn die EU endlich ihre gewaltige Regulierungsmacht nutzt, kann sie auch unsere demokratischen Werte und Freiheiten gegen die zerstörerische Kraft globaler Digital-Plattformen verteidigen.

Deutschland muss vorangehen

Treffen im Weißen Haus am 5. Juni 2025: Bundeskanzler Friedrich Merz (l.) und US-Präsident Donald Trump haben nach den Worten von Merz persönlich einen „guten Draht“ zueinander gefunden. - © Michael Kappeler/dpa

Treffen im Weißen Haus am 5. Juni 2025: Bundeskanzler Friedrich Merz (l.) und US-Präsident Donald Trump haben nach den Worten von Merz persönlich einen „guten Draht“ zueinander gefunden.
(© Michael Kappeler/dpa)

MEGA statt MAGA – wenn wir Europa auf diese Weise groß machen wollen, muss Deutschland vorangehen. Nicht nur, weil wir am meisten zu verlieren haben, sondern weil sich derzeit nirgendwo sonst in Europa politische Stabilität mit so großer wirtschaftlicher Potenz verbindet. Diese Bundesregierung kann Historisches leisten, wenn sie die Europäisierung deutscher Politik zur obersten Priorität macht. Sie könnte unserem Land und der Welt nicht besser dienen.