Stand: 02.07.2025 08:38 Uhr

Tour-Direktor Christian Prudhomme liegt sehr daran, während bestimmter Etappen an besondere Orte und Champions aus der Historie seines Rennens zu erinnern. In diesem Jahr ist das ganz besonders häufig der Fall.

In Frankreich besitzt die Tour de France den Stauts eines nationalen Kulturdenkmals, da kann es nicht überraschen, dass ihre Organisatoren die Geschichte dieses Radrennens auf besondere Weise pflegen. Christian Prudhomme ist passenderweise sogar ein Musterschüler in dem Fach „Tour-Historie“, der Direktor der Frankreich-Rundfahrt betont stets mit großem Pathos, wie wichtig es ist, das Erbe seines Rennens zu pflegen. Diese Aufgabe hat Prudhomme diesmal bei der Konzeption der am Samstag in Lille beginnenden 112. Ausgabe der Tour ganz besonders erfüllt.

Fakt ist, dass die Tour in den beiden vergangenen Jahren den Norden Frankreichs komplett ignoriert hat, obwohl dort eine große Radsporttradition existiert. In diesem Sommer scheint es so, als wolle Prudhomme nun vor allem die Nord- und Nordostfranzosen besonders mit Visiten in ihren Regionen beglücken.

Erinnerungen an Jean Stablinski

Entstanden ist eine Tour der Reminiszenzen und der Besuche von Erinnerungsorten des Rennens in Form eines großen Open-Air-Geschichtsunterrichts. Der Start in Lille im einstigen Kohlerevier des Départements Nord soll an die Taten des französischen Sprinters Jean Stablinski (1932 bis 2007) erinnern, dessen Heimatgemeinde Thun-Saint-Amand 40 Kilometer südlich von Lille entfernt ist und ebenfalls im Département Nord zu finden ist.

Gewann fünf Etappen bei der Tour de France: Jean Stablinski

Stablinski gewann zwischen 1957 und 1967 fünf Tour-Etappen, er siegte 1958 bei der Spanien-Rundfahrt und wurde 1962 Straßen-Weltmeister im italienischen Salo di Garda. „Es ist klar, dass wir mit dem Startort Lille auch Jean Stablinski ehren möchten“, sagt Prudhomme im Gespräch mit der „Sportschau“. Zudem möchte der Tour-Chef „meinen Vorgänger Jean-Marie Leblanc ins Gedächtnis rufen, der ebenfalls aus dem Département Nord stammt“.

Der Coup des Jean Robic

Die vierte Etappe widmet sich gleich zwei französischen Tour-Helden von einst. Auf dem Weg von Amiens nach Rouen in der Normandie müssen die Teilnehmer des Rennens gut 20 Kilometer vor dem Ziel die Côte de Bonsecours bezwingen, einen Berg der vierten Kategorie und ein Hügel, der Teil der Tour-Geschichte ist. Im Sommer 1947 attackierte der kleine Franzose Jean Robic auf der finalen Etappe von Caen nach Paris just an diesem Anstieg und eroberte am letzten Tag der ersten Nachkriegs-Tour quasi in letzter Minute das Gelbe Trikot, das zuvor der Italiener Pierre Brambilla getragen hatte.

Jean Robic (r.) am Hinterrad von Fausto Coppi bei der Tour 1952

Am Vorabend war Robic noch Dritter der Gesamtwertung, doch dank seines Coups stürmte er auf Rang eins – „damals ging so etwas noch, da konntest du mit einem Parforceritt am Schlusstag den Unterschied machen. Jean Robic hat die Tour gewonnen, ohne einmal im Rennen das Gelbe Trikot zu tragen, sein Meisterstück war damals eine fabelhafte Sache in Frankreich, die ein großes Echo hervorrief“, sagt Prudhomme. Oben auf der Côte de Bonsecours erinnert seit nunmehr 25 Jahren eine Stele an die Taten des Jean Robic.

Zu Besuch bei Jacques Anquetil in Rouen

Rouen wiederum, der Zielort der vierten Tageswertung, ist der Heimat von Jacques Anquetil, dem ersten Radprofi, der fünfmal die Tour gewinnen konnte. Anquetil, ein hagerer Normanne, Spitzname „Monsieur Chrono“, war ein ausgewiesener Zeitfahr-Experte, er gewann das Rennen 1957 und von 1961 bis 1964. Zuletzt war Rouen 2012 Etappenziel der Tour, damals gewann André Greipel am Ufer der Seine. Die Stadt erinnerte vor 13 Jahren auf ihrem Alten Marktplatz in Form einer Sonderausstellung an ihren berühmten Sohn.

Am sechsten Tag der Tour 2025 steht unter anderem Thierry Gouvenou im Mittelpunkt, der Streckenarchitekt des Rennens. Die Etappe endet in Vire-Normandie, seinem Heimatort, in dem er auch zur Schule gegangen ist. „Das ist eine große Sache für Thierry, der immer davon geträumt hat, dass die Strecke der Tour einmal durch Vire-Normandie führt. Jetzt endet sogar eine Etappe dort“, sagt Prudhomme. Gouvenou, der als Radprofi selbst siebenmal an der Tour teilnahm, wird wissen, was er der Kleinstadt zumutet. Für die Ehre, Zielort der Tour zu sein, berechnen die Renn-Organisatoren der Amaury Sport Organisation (ASO) 130.000 Euro. Für Gouvenou dürfte es allerdings gewiss nicht schwer gewesen sein, einen Rabatt auszuhandeln.

Tour-Direktor Christian Prudhomme bei der Streckenverkündung für die Tour 2025

Hommage an Bernard Hinault in der Bretagne

Die siebte Etappe der Tour am 11. Juli wiederum ist eine Hommage an den Bretonen Bernard Hinault. Er gewann wie Anquetil fünfmal die Tour, zuletzt gelang ihm das 1985. Seitdem hat kein Franzose mehr das schwerste Radrennen der Welt gewonnen. Hinault wohnt auf einer Farm in Calorguen, diesen Ort mit gerade einmal 722 Einwohnern passiert das Peloton nach 51 von knapp 200 Rennkilometern. Geboren wurde Hinault in Yffiniac. Auch dieses Örtchen ist Teil des Parcours, nach 120 Kilometern passiert der Tour-Tross das Dorf, in dem 5.000 Menschen leben.

Bernard Hinault (r.) 1986 bei der Tour, es siegte am Ende Teamkollege Greg Lemond (l.)

Einen Tag später beginnt die achte Etappe in Saint-Méen-le-Grand. Dort wurde der Tour-Held Louison Bobet geboren. „Er wäre in diesem März 100 Jahre alt geworden, er gewann die Tour 1953, 1954 und 1955. Sein letzter Toursieg ist nun also 70 Jahre her, das ist ein zweiter Grund, um in seiner Heimatgemeinde an ihn zu erinnern“, erzählt Prudhomme.

Die selbe Strecke wie 1986

Zu den Erinnerungsorten der Tour gehört auch das Pyrenäenstädtchen Superbagnères. Dort verlor Hinault 1986 im Gelben Trikot infolge eines Schwächeanfalls viel Zeit auf seinen teaminternen Konkurrenten Greg LeMond, der später die Tour gewann. Für französische Radsportliebhaber ist Superbagnères ein Schicksalsort. 36 Jahre gastierte das Rennen nicht mehr dort oben, „das lag an zwei alten Brücken, die dem Tross der Tour nicht standgehalten hätten. Nun sind sie renoviert und wir bewegen uns exakt auf dem Parcours von 1986. Das war uns wichtig“, sagt Prudhomme.

Die Tour der Erinnerungen endet am 27. Juli wie seit 1975 üblich auf den Champs-Élysées im Herzen von Paris. Diesmal sind sogar drei Bergwertungen auf dem Montmartre zu absolvieren, bevor die 112. Ausgabe des Rennens ihr Ende findet. „Der Radsport hat tiefe Wurzeln. Für mich ist es sehr wichtig, dass wir uns an das erinnern, was war – an Orte und Champions“, erzählt Prudhomme. Deshalb seien immer wieder viele Anspielungen auf die Vergangenheit in einen Tour-Parcours integriert. Diesmal aber genauso auch der Col de la Loze als Schlusspunkt der 18. Etappe. Der heftige Alpen-Anstieg von 26,4 Kilometern Länge ist erst zum dritten Mal Teil der Frankreich-Rundfahrt. „Ich setze mich sehr dafür ein, die Geschichte der Tour in Erinnerung zu rufen. Genauso wichtig ist es mir aber auch, stets etwas Neues einzubauen. Wie den Col de la Loze. Und wie den Montmartre.“

Der Col de la Loze als Teil von etwas Neuem

In Bezug auf den Col de la Loze könne daraus eine Tradition erwachsen, der Berg bringe alles mit, um eines Tages ein mythischer Tour-Anstieg zu werden, findet Prudhomme. Der Montmartre jedoch sei eine Erinnerung an die Olympischen Spiele von Paris und das außergewöhnliche Zuschaueraufkommen während des Straßenrennens. Nach Lage der Dinge soll es bei einem einmaligen Ausflug auf den Pariser Hausberg bleiben. Es spricht allerdings viel dafür, dass dieses Tourfinale eines sein wird, das angesichts des zu erwartenden Spektakels gleich schon mit dem Adjektiv „historisch'“ bedacht wird. Was ja zum Prinzip der Tour unter Prudhomme passen würde.