Inmitten des anhaltenden Ukrainekriegs sieht sich Kiew mit einer wachsenden innenpolitischen Herausforderung konfrontiert. Minderjährige geraten zunehmend ins Visier der Sicherheitsbehörden – als mutmaßliche Spione und Saboteure. Wie die Financial Times unter Berufung auf den ukrainischen Geheimdienst SBU berichtet, soll Russland gezielt über soziale Medien wie Telegram, Discord oder WhatsApp Jugendliche anwerben, um sie für Missionen gegen die Ukraine zu gewinnen.
Mehr als 700 Verdächtige festgenommen
Seit Frühjahr 2023 wurden laut SBU mehr als 700 Personen festgenommen, denen Spionage, Sabotage oder Anschläge vorgeworfen werden – rund ein Viertel davon waren unter 18 Jahren alt. Einige der Jugendlichen sollen bewusst gehandelt haben, andere wurden offenbar durch Geldversprechen, Tricks oder vermeintliche Spiele wie eine Schnitzeljagd zur Mitarbeit verleitet. Die Belohnungen reichten demnach von 100 bis 1000 US-Dollar – ein Anreiz besonders für Jugendliche aus armen Verhältnissen.
Ukrainische Sicherheitsbehörden sprechen von einer gezielten russischen Strategie zur Destabilisierung des Landes. SBU-Chef Wassyl Maljuk bezeichnete das Vorgehen Moskaus als Versuch, die „ukrainische Jugend in Waffen gegen das eigene Volk“ zu verwandeln.
Der SBU berichtete der Financial Times von einem Fall im März, bei dem zwei Jungen im Alter von 15 und 17 Jahren von Russland angeworben worden sein sollen, um einen Bombenanschlag auf einen Bahnhof in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk zu verüben. Der in einer Tasche versteckte Sprengstoff, den einer der Jugendlichen bei sich trug, detonierte vorzeitig. Die russischen Betreuer hätten die Explosion per Fernzündung ausgelöst. Dadurch wurden die beiden Jungen zu unwissentlichen Selbstmordattentätern. Einer der Jungen wurde getötet, der andere schwer verletzt, ebenso wie zwei Passanten, so der SBU.
So ernst die Bedrohung durch solche Aktionen auch sein mag, der Umgang mit jugendlichen Verdächtigen sorgt für wachsende Kritik. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) warnt vor den möglichen Konsequenzen für die betroffenen Minderjährigen. Ihnen wird teilweise Hochverrat, Terrorismus oder Sabotage vorgeworfen – Delikte, auf die nach ukrainischem Kriegsrecht lange Haftstrafen bis hin zu lebenslänglich stehen.
Human Rights Watch kritisiert ukrainische Behörden
Yulia Gorbunova, leitende Ukraine-Forscherin bei Human Rights Watch, betont im Gespräch mit der Financial Times, dass Kinder nicht nur in Friedens-, sondern auch in Kriegszeiten einen besonderen Schutz genießen – selbst dann, wenn sie als Sicherheitsbedrohung wahrgenommen werden und der Verdacht besteht, dass sie Verbrechen gegen die nationale Sicherheit begangen haben.
„Wenn Kinder verdächtigt werden, rechtswidrige Handlungen begangen zu haben, sind die Behörden verpflichtet, sie im Einklang mit den internationalen Standards des Jugendstrafrechts zu behandeln und dabei Rehabilitation und Wiedereingliederung Priorität einzuräumen“, sagte sie. Die Inhaftierung von Kindern dürfe nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Zudem müsse ihnen ab dem Moment, in dem ihr Status als Minderjährige bestätigt wird, ein Rechtsbeistand zur Seite gestellt werden, kritisiert Gorbunova das Vorgehen der ukrainischen Behörden.