Gelsenkirchen. Gelsenkirchens Opernhaus verliert nach 17 Jahren seinen Chef. Im Abschiedsinterview spricht er über Siege, Niederlagen und sein Gewicht.
So lange hat es in 66 Jahren des Bestehens niemand geschafft. 17 Jahre lenkte Michael Schulz die Geschicke des Musiktheaters im Revier. Es gab viele Triumphe, auch Schlappen, es gab die Pandemie und große Veränderungen in unserer Gesellschaft. Was er schon jetzt vermisst? „Die tollen Menschen hier!“ Ein Abschiedsgespräch.
17 Jahre! Als ich ihre erste Inszenierung besprochen habe, hatte ich noch keine grauen Haare. Was hat sich bei Ihnen geändert in 17 Intendantenjahren, Herr Schulz?
Mein Gewicht! (lacht lange) Ja, natürlich, wir sind älter geworden, überhaupt keine Frage. Beim Umzug sind meine Frau und ich auf Fotos meiner Anfänge hier gestoßen. Und ja: Ich sehe da um einiges jünger aus.
Opernintendant: Ein schönes Amt, ein begehrtes Amt, aber auch permanent unter Strom. Altert man schneller in dem Job?
Dieser Beruf fordert seinen Tribut, klar. Aber es gibt und gab Intendanten, die gesagt haben: Dieser Beruf frisst mich körperlich auf. Das würde ich so für mich nicht in Anspruch nehmen. Aber mein Alltag ist einfach kein Alltag. Ein Intendant soll immer erreichbar sein, er muss Probleme lösen, dauernd. Selbst ein halbstündiger Spaziergang mal eben so ist einfach nicht drin. Ich spür‘ das, aber es ruiniert mich nicht.
In Ihrer Amtszeit hat Schalke 25 Trainer verschlissen. Sie blieben im Sattel, bei Triumph und Niederlage. Hat man überhaupt Zeit, sich mit Glücksmomenten und Schlappen zu beschäftigen?
In Erinnerungen bleiben Dinge, die den Betrieb echt gefährden. Es geht gar nicht in erster Linie um Künstlerisches: Da geht mal was schief, da glückt was, Kunst darf auch scheitern. Da geht es immer weiter. Aber wenn etwa politischer Rückhalt verloren geht, das nagt an einem, das macht mürbe. Und es sind die Sparmaßnahmen, die einem zusetzen. Das war bei mir gleich am Anfang. Die größte Krise war Corona!
Ungewöhnliche Lage: Opernintendant Michael Schulz 2023 beim Casting für die Seefahrer-Oper „Billy Budd.“ Seine Britten-Inszenierung am Musiktheater im Revier wurde einhellig gefeiert-
© FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka
Mit dem Thema kommen Sie mir zuvor. Mein Eindruck damals war: Keinen Intendanten hat die Lähmung durch die Pandemie so angefasst wie Michael Schulz…
Das können Sie besser beurteilen. Aber es stimmt: Ich war total erschüttert. Und ich war nicht mit jeder Regelung einverstanden. Wissen Sie, hier arbeiten Menschen, die mit nichts anderem umgehen als mit ihrem Körper, mit ihrem Atem, ihrer Stimme und dass sie miteinander etwas entstehen lassen, dass unbedingt Nähe braucht. Dass das untersagt wird, macht was mit den Menschen. Dazu die existenzielle Angst, etwa für einen Sänger: „Was passiert, wenn ich so krank werde, dass ich meinen Beruf nie mehr ausüben kann?“ Aber es betraf ja auch das ganze Leben. Ich bin privilegiert: große Wohnung, Garten, wir kamen da durch. Aber die Kollegen, bei denen drei Kinder in einer kleinen Wohnung hockten und nicht raus durften und dann lag unser Betrieb noch still…
In diesen 17 Jahren hat sich unsere Gesellschaft stark verändert, starke Migration, radikale Tendenzen in Politik und Gesellschaft, Fake News, dazu die fortschreitende Isolation durch die Dominanz neuer Medien. Lauter Dinge, die Sie nicht beeinflussen können.
Es ist zwar nicht meine Aufgabe, all das zu lösen, aber die Folgen kriegt ein Theater natürlich ab. Was ich aber immer als Aufgabe gesehen habe: auf Dinge reagieren, die wir als Theater zu unseren machen können. Klar: Wir haben einfach einen immensen gesellschaftspolitischen Auftrag, aber wir müssen auch Grenzen erkennen.
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Zum Beispiel?
Es gibt diesen großen, vielfach auch von der Politik tausendfach geäußerten Wunsch, bestimmte andere Kulturen in diese Häuser zu bekommen. Aber wenn diese Art der Kultur, die wir hier pflegen, erst mal nicht zur Identität dieser Menschen gehört und es da spürbar sehr wenig Bedarf und Interesse gibt, dann können wir keine Wunder vollbringen.
Wenn man in eine MiR-Vorstellung für Erwachsene geht, bilden sich die vielen Jahrzehnte Migration kaum ab.
So ist es. Natürlich versuchen wir vieles, gehen auch raus, mit Stadtteilprojekten etwa. Aber wir dürfen auch nicht blauäugig sein und darin ein Allheilmittel sehen. Da kann mal eine Aktion mit 200 Menschen klappen, aber die füllen unsere 1300 Plätze im Großen und Kleinen Haus nicht. Unser Kerngeschäft bleibt ein Angebot für Menschen, denen Mozart oder Verdi etwas bedeuten.
Mit Weitblick: Michael Schulz hat das Musiktheater im Revier immer als Haus für „alle“ verstanden. Musical, Operette, große Oper: Schulz‘ Spielplan reichte von „Cabaret“ über „Die lustige Witwe“ bis zu Uraufführungen zeitgenössischer Oper.
© FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann
Aber es gibt auch dort keine Selbstläufer mehr. Sie haben unlängst eine ganz starke „Salome“ gehabt. Vor 20 Jahren hätten sie die ersten acht Vorstellungen locker ausverkauft. Klappt nicht mehr.
Viele Dinge sind auch im Bürgertum nicht mehr selbstverständlich. Ich glaube nicht, dass die Musik die Menschen nicht mehr erreicht. Was sicher stärker gedacht und gemacht werden muss, ist Marketing. Dass in Essen eine Gegenwartsoper wie „Dogville“ in der Nachfrage durch die Decke ging, auch wegen einer Autofahrt auf der Szene und einem brennenden Bühnenbild, das ist Oper auch als Event. Ganz können wir uns der Welt, die es nach Events verlangt, sicher nicht verschließen.
Jüngere, die digital unterwegs sind, kommen aus einer perfekten Welt in ein Opernhaus, in dem kein einziger Sänger ein Mikro hat…
Hörgewohnheiten ändern sich rasant. Wer nur noch perfekt ausgesteuerte, teils auch eindeutig manipulierte Aufnahmen kennt, der muss sich in unsere „old fashioned“ analogen Aufführungen erstmal einfinden. Aus diesen neuen Hörgewohnheiten ist eine Erwartungshaltung geworden. Wie können wir dem begegnen? Ich glaube, mit der Qualität, die „live und echt“ heißt: Alles, was du hörst und siehst, geschieht jetzt in diesem Moment.
In den 66 Jahren, seit denen das Musiktheater im Revier (MiR) steht, hat kein Intendant sich so lange gehalten wie Michael Schulz. Dessen Herz gehört auch der Architektur. Werner Ruhnau schuf den Bau am Rande der Innenstadt von Gelsenkirchen.
© FUNKE Foto Services | Ingo Otto
Sie haben in Ihrer Zeit hier auch die Kunst beherrscht, der Zampano zu sein. Anders als Hein Mulders in Essen haben Sie kein Musicalverbot erlassen, es gibt das Feierabendsingen, regelmäßig Operetten…
Ich glaube, dass diese Mischung überall den Menschen gut tut. Das fällt mir nicht schwer, wirklich. Ich hab‘ als Schüler angefangen ins Theater zu gehen, teils jeden zweiten Abend in Braunschweig. Und ich hab‘ nichts ausgelassen. Da hab‘ ich sehr bald gemerkt, dass ein extrem anspruchsvoller Hamlet genauso ein tolles Erlebnis sein kann wie eine Offenbach-Operette. Ich bin da rausgegangen und durfte sagen; „Ich hab‘ was erlebt.“ Das ist in meinem Kopf geblieben und in meinem Herzen – als Auftrag, dass es unseren Besuchern auch so geht. Dazu vielleicht noch eine Geschichte: Ans MiR kam ich ja vom Nationaltheater Weimar, wo Hochkultur extrem hoch gehalten wurde. Als ich dort „Das weiße Rössl“ angesetzt habe, hörte ich von Abonnentinnen: „Herr Schulz, das mögen wir hier nicht!“
Kam es trotzdem an?
Natürlich, dass war doch gar keine Frage! (lacht). Meine feste Überzeugung ist: Ein Theater ist für alle da.
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Sie haben so viel Erfahrung. Warum scheitert man trotzdem mit Inszenierungen, warum gibt es Flops?
Manchmal ist die Grundidee schief, manchmal passt sie nicht zu den Künstlern, mit denen man sie umsetzt. Aber Sie haben Recht: Auch nach so vielen Jahren ist man absolut nicht sicher, wie man einen Erfolg landet. Aber obwohl ich natürlich erfolgreich sein will: Ich finde es schon gut, dass es keine absolute Sicherheit gibt beim Schaffen von Kunst. Außerdem arbeiten wir immer auf Termin: Wenn Premiere ist, muss man raus damit, auch wenn man als Regisseur nicht fertig geworden ist.
Was hält länger in Ihnen: die Freude über Gelungenes oder die Zerknirschung über Missglücktes?
Das ist ja ein Phänomen: Was gut ist, nimmt man man eher als selbstverständlich hin. Das Unangenehme beißt einen stärker. Aber die großen Abende von der „Passagierin“ über „Mass“ bis zu „Mathis der Maler“, das bleibt schon, da haben wir gezeigt, wer wir sind und was wir können.
Oft schuf er fein gewirktes Musiktheater, abseits von naheliegenden Modernismen. Auch Janaceks „Das schlaue Füchslein“ geriet dem Gelsenkirchener Opernintendanten Michael Schulz als erlesen gute Deutung.
© Musiktheater im Revier | Bettina Stoess
Also doch viel Zufriedenheit!
Ich habe tolle Glücksmomente in diesem Haus gehabt, sonst wäre ich nicht so lange hier geblieben. Das Miteinander, das Engagement der Leute, das ist fast wie Familie, das macht glücklich. Klar ist der Intendant kein normales Familienmitglied, der ist auch streng und mal unangenehm. Aber das ist Teil der Aufgabe. Ich bin hier auch in Auseinandersetzungen gewesen und durch viele Täler gegangen. Die Mischung gehört dazu. Aber es geht immer um Menschen, vom Schnürboden bis zum Platz im Parkett.
Sie gehen nun an ein Theater, wo weit und breit keine Konkurrenz lauert. Hier haben Sie vier dicke Häuser von Dortmund bis Düsseldorf direkt vor der Nase gehabt…
Fand ich ganz toll! Und man muss sagen: Da hat die Kulturhauptstadt 2010 viel gebracht, die Zusammenarbeit mit den anderen Opernhäusern ist wunderbar. Die Theaterlandschaft ist um 180 Grad gewendet zu 2008, als ich hier angefangen habe: Es gibt keinen Neid, alle empfinden sich in einem Boot; Konkurrenz wird ganz positiv zugelassen
Was man sich nur im Abschiedsinterview zu fragen traut: Sie gelten als guter Koch und Feinschmecker. Haben Sie je einen Big Mac gegessen?
Das habe ich schon, aber das ist jetzt nicht meine größte Freude. Allerdings muss ich bei einem Nationalgericht des Ruhrgebiets, in dem ich nun 17 Jahre gelebt habe, völlig passen!
Heraus damit, Herr Schulz!
Currywurst! Ich kann einfach überhaupt nicht versehen, was daran toll sein soll. Ein Essen, das ich völlig überflüssig finde.
Currywurst werden sie also in Saarbrücken nicht vermissen…
Nee, aber sehr viel sonst. Wenn ich das ganze Haus, das Gebäude und seine vielen tollen Menschen, mitnehmen dürfte nach Saarbrücken: Ich würde es tun!
Gala nimmt Abschied vom Chef
Der scheidende Hausherr weigert sich zwar, seine Dienstzeit eine „Ära“ zu nennen. Aber gebührend verabschiedet wird er doch. Am Sonntag, 13. Juli 2025, 18.00 Uhr heißt es im Großes Haus des Musiktheaters im Revier „Mach’s gut, Michael – und wenn du gehst, geht auch ein Teil vom MiR“. Dann verabschieden sich das aktuelle Ensemble, die Neue Philharmonie Westfalen und Überraschungsgäste mit musikalischen Geschenken von ihrem Intendanten.
Im Anschluss an das Abschiedskonzert bietet ein Grillfest bei Getränken und Speisen die Möglichkeit zum gemütlichen Beisammensein, sich an die vielen Highlights der letzten 17 Jahre zu erinnern und gemeinsam Abschied von Michael Schulz und der Spielzeit 24.25 zu nehmen. Das Publikum ist herzlich dazu eingeladen.
Karten für 25 Euro an der Theaterkasse: Montag und Samstag von 10.00 bis 14.00 Uhr, Dienstag bis Freitag von 10.00 bis 18.30 Uhr, E-Mail: theaterkasse@musiktheater-im-revier.de, telefonisch unter 0209.4097-200