Als Blythe House, die ehemalige Zentrale der Postsparbank im Westen Londons, einigen Nationalmuseen Ende der Siebzigerjahre zur Lagerung ihrer Reservesammlungen angeboten wurde, protestierte Roy Strong. Der flamboyante Direktor des Victoria and Albert Museum störte sich daran, dass der um 1900 entstandene Prachtbau bloß ein Abladeplatz sein solle. Ihm schwebte vielmehr vor, in einem der größten öffentlichen Gebäude einen „aufregenden Komplex für die Öffentlichkeit“ einzurichten.
Dazu kam es nicht. Mehr als fünfzig Jahre später ist Strongs Vorstellung eines allgemein zugänglichen Depots für das weltführende Kunst- und Gewerbemuseum auf spektakuläre Weise in Erfüllung gegangen – am anderen, östlichen Ende der Stadt am Rande des auf einer Industriebrache entstandenen Olympiaparks und in unmittelbarer Nachbarschaft zur höchsten Konzentration von Künstlern und Kreativunternehmen Europas. Dort ist ein Segment des fast 300 Meter langen Medienzentrums der Olympischen Spiele zu einer Mischung aus Logistikzentrum, Wunderkammer, Flohmarkt und Archiv für die kunsthandwerklichen Schöpfungen der Nation geworden. Das V&A East Storehouse geht aufregende neue Wege, um zu vermitteln, wie Museumsarbeit hinter den Kulissen funktioniert.
Von außen sieht der hangarartige Kasten, in dem das V&A auf hundert Jahre 16.000 von rund 111.500 Quadratmetern gepachtet hat, nach nichts aus. Selbst der Eingang wird bewusst unscheinbar gehalten, als betrete man den Mitarbeiterraum eines Betriebs durch die Hintertür. Erst wenn der Besucher tiefer in das Innere eintaucht, entfaltet sich die Dramaturgie des amerikanischen Architekturbüros Diller Scofidio + Renfro, das den Auftrag auch wegen der erfolgreichen Umwandlung der New Yorker Hochbahntrasse in eine das Publikum anziehende Grünanlage erhielt.
Fünf großformatige fixe Installationen
Vom mit Sperrholz verkleideten Foyer führt eine Treppe in den klimatisierten Kern des Gebäudes. Ein schmales, von einem Sammelsurium von Büsten gesäumtes Mezzanin steigert den Aha-Effekt des kolossalen vierstöckigen Innenhofes mit umlaufenden Gängen und künstlichem Oberlicht. Um den Hof herum ist das in 175 Jahren akkumulierte „Delirium von Objekten“ wie in einer Ikea-Lagerhalle auf offenen Regalen mehr oder weniger kunterbunt nach Format arrangiert.
In Transportkisten fixiert, stehen die vom Kunstvollen über das Banale bis zum Skurrilen und Gewöhnlichen reichenden Gegenstände auftrittsbereit, wie Einspringer in einem metatheatralischen Spektakel, das den Mechanismus des Museums zum Gegenstand hat. Die architektonische Regie bedient sich des panoptischen Prinzips der Sichtbarkeit vom zentralen Punkt des Innenhofes. Laufstege und Regale aus Gitterrost ermöglichen ebenso wie Glasböden und -geländer Durchblicke in alle Richtungen. Das Erdgeschoss ist für die Öffentlichkeit nicht begehbar, Besucher können jedoch von oben beobachten, wie die Logistik funktioniert. Piepsende Gabelstapler manövrieren zwischen Regalen und Objekten, wie den fünf Säulen der marmorintarsierten Kolonnade des Badehauses des Mogulherrschers Shah Jahan aus dem Roten Fort von Agra, die in der Kolonialzeit nach England verfrachtet wurden. Nach siebzig Jahren sind sie, wie viele lange im Verborgenen schlummernden Objekte, erstmals wieder zu sehen.
Gläserne Konservatoren: Wie auch bei der restauratorischen Ertüchtigung von Rembrandts „Nachtwache“ im Amsterdamer Rijksmuseum kann man den Restauratoren des neuen V & A East Storehouse in London über die Schulter schauenVictoria & Albert Museum
Das Fragment gehört zu einer Gruppe von fünf großformatigen fixen Installationen, die im Gebäude verteilt sind und in ungewohntem Nebeneinander zu frischen Assoziationen anregen. Dazu gehören die wegweisende Frankfurter Küche, deren eindeutige Zuschreibung an die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky zuletzt infrage gestellt worden ist; die aus einem brüchigen Renaissancepalast bei Toledo gerettete Holzdecke, deren aufwendige Schnitzerei die Verschmelzung von islamischen und westlichen Formen demonstriert; das komplett erhaltene, holzgetäfelte Büro, das Frank Lloyd Wright für den Pittsburgher Warenhausbesitzer Edgar J. Kaufmann entwarf; und eine zwischen zwei Stockwerken montierte Scheibe der Betonfassade der brutalistischen Sozialsiedlung Robin Hood Gardens von Alison und Peter Smithson im Londoner Osten, die mit ihren „Straßen im Himmel“ genannten Laubengängen eine rasch zerschmetterte utopische Vision des modernen Lebens verhieß, die schließlich zum Abriss führte. Die Fragmente der abgerissenen Wohnsiedlung werden durch Geschichten der ehemaligen Bewohner ergänzt.
Fünfzehn neu eingestellte Sammlungsverwalter
In der immersiven Inszenierung des V&A East Storehouses ist das Publikum nicht nur Zuschauer, sondern zugleich Kurator und somit Mitregisseur der eigenen Erfahrung. Die meisten Objekte sind allein mit QR-Codes versehen, über die sich zusätzliche Information abrufen lassen. Nur hin und wieder stößt der Besucher auf kuratierte Mini-Ausstellungen, die anhand von Objekten Aspekte des Sammelns, Bewahrens, Erfassens und Vermittelns beleuchten, aber auch das Vermächtnis des Kolonialismus und andere kulturpolitische Fragen, oft mit besonderem Bezug zur ethnischen Vielfalt der umliegenden Quartiere, in denen Südasiaten vierzig Prozent der Bevölkerung bilden. So gibt es zu den Säulen aus Agra einen Film, der erkundet, welche Bedeutung sie für die indischstämmige Diaspora hat.
Jeder Besucher kann im Voraus bis zu fünf Objekte aus dem digitalisierten Katalog zur persönlichen Betrachtung bestellen, sei es für Forschungszwecke, aus persönlichem Interesse oder als Quelle der Inspiration. Dass fünfzehn neu eingestellte Sammlungsverwalter zur Erläuterung bereit stehen und das Museum an 363 Tagen im Jahr bei freiem Eintritt geöffnet ist, zeigt das enorme Bemühen, sich zugänglich für die Öffentlichkeit zu zeigen.
In einer Zeit, in der Museen unter Druck stehen, ihr Sammlungskonzept zu rechtfertigen und ihre Bestände nicht im Depot verstauben zu lassen, hat sich das V&A zu einem radikalen Umdenken entschlossen. Vor zehn Jahren kündigte die Regierung den drei Museen, die ihre Reservesammlungen in Blythe House gelagert hatten, weil das Gebäude veräußert werden sollte. Bisher hat sich zwar kein Käufer gefunden, die betroffenen Museen haben sich aber mithilfe einer staatlichen Zuwendung in Höhe von insgesamt 150 Millionen Pfund umorientiert.
Ein Komplex innovativer Einrichtungen
Die Häuser sind dabei sehr unterschiedliche Wege gegangen: Das Britische Museum hat rund 1,3 Millionen archäologische Objekte in einer neuen Lager- und Forschungsstätte auf dem internationalen Forschungspark der Universität Reading rund siebzig Kilometer westlich von London untergebracht. Die Science-Museum-Gruppe, die fünf Museen umfasst, ist in die Grafschaft Wiltshire auf einen ehemaligen Fliegerhorst mit neun Hangars ausgewichen, den sie ebenfalls als Forschungszentrum betreibt. Die bestehenden Einrichtungen sind zudem um ein zweckmäßig gestaltetes Sammlungsverwaltungszentrum ergänzt worden, das 300.000 von Blythe House umquartierte Objekte beherbergt und für buchbare Gruppenführungen, Schulbesuche und Forschungszwecke zugänglich ist.
Das Victoria and Albert Museum hat dem Druck widerstanden, sein Depot an einen Standort außerhalb von London zu verlagern. Stattdessen gesellt es sich zwischen etwas seelenlosen neuen Wohnhochhäusern, Gaststätten und Geschäftshäusern zu einem Komplex innovativer Einrichtungen für Bildung, Forschung, Kultur und Technologie, der einen Nährboden für bahnbrechende Ideen schaffen und das Wirtschaftswachstum im Umfeld antreiben will. East Bank wird als die größte Investition in die kulturelle Infrastruktur Londons seit den der Weltausstellung von 1851 entsprungenen Projekten in South Kensington angepriesen, zu denen auch das später nach Königin Viktoria und ihrem Prinzgemahl benannte Museum für angewandte Kunst zählt.
Ableger des University College, das in den Osten umgesiedelte London College of Fashion sowie der mit einem Zuschauersaal für 550 Personen und sechs hochmodernen Studios ausgestattete Außenposten des Sadler’s Wells Tanztheaters und die aus West-London verlegten Musikstudios der BBC sind einige der Institutionen, die sich frische Impulse vom Ideenaustausch und von gemeinsamen Projekten versprechen. Zu diesen zählt das legendäre Ballett „Le Train Bleu“ von 1924, das jetzt vom English National Ballet neu aufgeführt wurde – vor dem ursprünglichen Bühnenvorhang mit der vielfach vergrößerten Kopie von Picassos Gemälde „Zwei Laufende Frauen am Strand“. Die zehn Meter hohe, frisch restaurierte Leinwand ist im V&A Storehouse East als Großobjekt der Sammlung in einem eigenen, für Veranstaltungen nutzbaren Raum ausgestellt.Picasso gefiel die Umsetzung seiner Vorlage derart, dass er sie signierte.
2026 soll das Museum V&A East folgen
So, wie das Victoria and Albert Museum im Zeitalter der fortschreitenden Industrialisierung aus dem Bestreben hervorging, die Produktqualität der heimischen Hersteller zu verbessern, spiegeln der Standort des offenen Depots und das ihm zugrundeliegende Konzept die sozialpolitischen und kulturellen Anliegen unserer Zeit. Mit seinem Neobarock verkörperte Blythe House den paternalistischen Staat und die Demokratisierung des Wohlstands im angehenden 20. Jahrhundert. Im V&A East Storehouse, wie auch bei den anderen Institutionen, die sich in East Bank angesiedelt haben, kommt das neue Denken über Transparenz, Nachhaltigkeit, Inklusivität, Relevanz und Partizipation zum Tragen. Die Lagerhaus-Ästhetik des Depots zielt auf ein junges Publikum, das sich durch Marmorsäulen und Mosaikfußböden abgeschreckt fühlen könnte.
Im September werden als zusätzliche Attraktion Arbeitsräumlichkeiten eröffnet werden, die um die David-Bowie-Sammlung des Hauses herum angesiedelt sind. Hier sollen die Bedingungen für neue Schöpfungen geschaffen werden. Und im nächsten Jahr folgt in einem getrennten Bau das ursprünglich als Gemeinschaftsprojekt des V&A mit der Smithsonian Institution konzipierte Museum V&A East. Nach dem Rückzug des amerikanischen Partners wird es mit einem Fokus auf zeitgenössische, lokale und identitäre Aspekte von Design, Kunst und Performance in alleiniger Regie vom V&A East bespielt. Die physische Trennung von V&A East und Storehouse East markiert die unterschiedlichen, sich gegenseitig ergänzenden Aufgaben von kuratiertem Museum und offenem Depot. Die beiden eint das Demokratisierungsideal ebenso wie die Gründungsmission, kreatives Design zu fördern.