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Dagmar Tenten vor ihrer geliebten Büchergilde. Ende Januar muss sie den Laden schließen. © Oliver Schepp
Zum neuen Jahr wird ein weiteres alteingesessenes Geschäft aus der Innenstadt verschwinden. Das Gebäude, in dem die Büchergilde seit Jahrzehnten zu Hause ist, wurde verkauft, und der neue Eigentümer hat Dagmar Tenten gekündigt. Ihr ganzes Leben hat die 69-Jährige in der Büchergilde verbracht. Nun steht sie mit gebrochenem Herzen vor einer ungewissen Zukunft.
Ein leicht vergilbter Mietvertrag liegt auf dem kleinen Tisch in der »Büchergilde Gutenberg«. Unterschrieben wurde er 1974. Daneben befindet sich ein strahlend weißes Blatt, es ist ganz aktuell – und der Grund, warum Dagmar Tenten den Tränen nahe ist. Das Gebäude in der Wetzsteinstraße, in dem ihre Büchergilde zu Hause ist, wurde verkauft. Und der neue Eigentümer hat der 69-jährigen Inhaberin das Mietverhältnis gekündigt. »Zum 31. Januar 2026 muss ich hier raus«, sagt sie. »Ich weiß nicht, wie es danach mit mir weitergeht. «
Die Büchergilde ist eine Gießener Institution. Vergangenes Jahr hat Tenten doppeltes Jubiläum gefeiert: 100 Jahre war es her, dass sich Buchdrucker zusammenschlossen, um der Arbeiterklasse mit einer Büchergilde nicht nur inhaltlich, sondern auch gestalterisch hochwertige Bücher zu ermöglichen. Tentens Eltern haben dann vor 70 Jahren in ihrer Wohnung eine Zweigstelle dieser Buchgemeinschaft eröffnet, bevor 1974 der Umzug in die Wetzsteinstraße folgte. »Seitdem ich auf der Welt bin, gehört die Büchergilde also zu meinem Leben«, sagt Tenten. Dass damit bald Schluss sein soll, ist für die 69-Jährige unvorstellbar.
Der neue Eigentümer des Gebäudes ist der Besitzer des benachbarten Asia-Restaurants Kim Phat. Gegenüber dieser Zeitung bestätigt er die Kündigung und betont, dass das Ladenlokal künftig von der Familie genutzt werden soll. Ein konkretes Konzept gebe es aber noch nicht.
Selbst wenn der neue Hauseigentümer die Kündigung nicht ausgesprochen hätte, wäre wohl eine erhebliche Mieterhöhung gefolgt. Und die hätte Tenten vermutlich nicht bezahlen können. »Wenn es mir ums Geld ginge, hätte ich schon vor vielen Jahren schließen müssen«, sagt sie. Mit der Büchergilde würde sie kein Geld verdienen, im Gegenteil: »Ich habe, obwohl die Miete sehr gering war, seit vielen Jahren draufgezahlt.« Ein Hobby, und um ein Vielfaches mehr eine Herzensangelegenheit, koste eben manchmal Geld. »Es war ein überschaubarer Betrag gemessen daran, dass ich meine Leidenschaft ausüben konnte.«
Die Büchergilde war schon immer mehr als eine Buchhandlung. Vor allem in den 80er und 90er Jahren war sie zentrale Anlaufstelle für die Friedensbewegung, auch Gewerkschaftskreise haben die Räume oft und gerne angesteuert. Bis heute seien die Begegnungen mit den Mitgliedern von großer Herzlichkeit und zwar kurzen, dafür aber tiefgründigen Gesprächen geprägt, sagt Tenten. »Die Mitglieder erzählen mir, wie es in ihren Beziehungen läuft, wie es den Kindern und Enkelkindern geht.« Sie habe ein sehr familiäres, freundschaftliches Verhältnis mit den meisten Mitgliedern, sagt Tenten und betont, dass davon auch immer schon ihre eigene Familie profitiert habe.
»Als mein Vater Anfang der 80er Jahre starb, hat es meine Mutter nicht in der Wohnung ausgehalten, sie war von morgens bis abends im Laden.« Im Hinterzimmer sei gekocht worden, und wenn ein Kunde Gemüse vom Markt mit in den Laden gebracht habe, sei es nicht selten für ein gemeinsames Mahl im Topf gelandet. »Als meine Mutter dann starb, haben mich die Leute aufgefangen, so wie ich sie auch regelmäßig auffange«, sagt Tenten. Das sei auch der Grund, warum ihr die drohende Schließung so sehr zu schaffen mache: »Bücher kann man auch woanders kaufen und verkaufen. Aber die menschlichen Kontakte sind durch nichts zu ersetzen.«
Suche nach neuen Räumlichkeiten
Tenten lotet daher Möglichkeiten aus, ihre Gilde an einem anderen Ort wieder zu eröffnen. Doch die Chancen stehen schlecht. »Ich habe mir schon einige Räume angeschaut. In den meisten Fällen könnte ich nicht einmal die Hälfte der Miete zahlen, selbst wenn ich drauflegen würde.« Gleichzeitig wolle sie das Viertel, in dem sie geboren wurde, aufwuchs und später auch als Lehrerin der heutigen Ricarda-Huch-Schule tätig war, auf keinen Fall verlassen. »Ich kenne hier alle in der Nachbarschaft. Wir sind eng verbunden.« Dass die Nachbarn mitunter für sie mitkochen, zeigt, dass die Aussage keine hohle Phrase ist.
Auch wenn es mit neuen Räumlichkeiten für die Büchergilde nicht klappen sollte, will die Inhaberin nicht einfach aufgeben. Die vielen kulturellen Veranstaltungen, zum Beispiel Lesungen, die Tenten seit Jahren organisiert, will sie auch weiterhin anbieten. Sie habe auch schon die Aussicht auf gemütliche Räume, die dieses Vorhaben ermöglichen würden, sagt sie.
Und bis Januar hat die 69-Jährige ja auch noch ein wenig Zeit. Es wird also noch die ein oder andere Veranstaltung in der Wetzsteinstraße geben – allerdings ein wenig anders als sonst. »Das letzte Vierteljahr gehört mir«, sagt Tenten lächelnd und betont, dann ihre beiden eigenen Bücher vorstellen zu wollen. »Ende November organisiere ich auch wieder eine Weihnachtsveranstaltung, an der ich dieses Mal meine eigenen Weihnachtsgeschichten vorlese.«
Wie es danach weitergeht, wird sich zeigen. Tenten weiß, dass sie sich über den klassischen Immobilienmarkt wohl kein neues Ladenlokal leisten können wird. Aber vielleicht findet sich ja jemand, der die Idee der Büchergilde Gutenberg unterstützen möchte. Denn auch, wenn Tenten bereits das Rentenalter erreicht hat, will sie sich noch nicht zur Ruhe setzen. »Meine Mutter stand noch mit 84 hier im Laden. Das hatte ich auch vor.«
Bei der Vorstellung, künftig nur noch zu Hause zu sitzen, versagt der Buchhändlerin die Stimme: »Das wäre es nicht.«