Hamburgs Hafen steht vor einem tief greifenden Wandel. Der international renommierte Architekt und Stadtplaner Volkwin Marg fordert dabei mehr Mut vom Senat und eine strategische Neuausrichtung. Die politischen Rahmenbedingungen sein nicht mehr zeitgemäß.
Volkwin Marg blickt von seinem Büro an der Elbchaussee auf den Hamburger Hafen – und erkennt schon dabei Handlungsbedarf. Der Architekt und Stadtplaner fordert eine grundlegende Reform der Hafenpolitik. Er mahnt: veraltete Gesetze, fehlende Nutzungskonzepte und strategische Lücken blockierten die Entwicklung. Der Hafen müsse neu gedacht werden – als produktiver, urban integrierter Raum.
Welt am Sonntag: Die Hafencity nähert sich ihrer Vollendung. Was sehen Sie heute, wenn Sie auf das Projekt blicken?
Volkwin Marg: Die Hafencity zeigt wie Hamburg seinen Hafen und die Stadtentwicklung neu gedacht hat. Sie steht für die Rückgewinnung städtischer Flächen am Wasser. Die Idee entstand als der Warenumschlag in den innenstadtnahen Hafenbecken durch die Containerschifffahrt an Bedeutung verlor und die wachsende Stadt neue Entwicklungsperspektiven brauchte. Die Umsetzung war ein Kraftakt – politisch, wirtschaftlich und städtebaulich. Heute ist die Hafencity ein vitaler, gemischt genutzter Stadtteil mit hoher Lebensqualität – und mit der Elbphilharmonie als kulturellem Wahrzeichen, das weit über Hamburg hinausstrahlt.
WAMS: Das klingt nach großer Zufriedenheit…
Marg: Ich hätte mir als Hanseat eine Gestaltungssatzung gewünscht. Insbesondere im Speicherstadtbereich ein Verbot nicht höher zu bauen als die Speicher. Auch ästhetisch hätte ich mir bei aller Vielfalt im Detail mehr Einheitlichkeit im größeren Zusammenhang gewünscht – stofflich und baukörperlich – so wie wir sie aus den gewachsenen Gründerzeitvierteln kennen, die bei aller Vielfalt doch eine morphologische Einheit bilden. Das ist nicht passiert, aus panischer Sorge, es könnte monoton werden. Die Hafencity ist wie ein gesund geborenes Kind, bei dem im Laufe seiner Entwicklung einiges ein wenig zu groß und anderes etwas zu schwer geworden ist, und das auch nicht ohne einige Blessuren aufgewachsen ist. Aber es ist vital. Und das ist das Entscheidende.
WAMS: Was war Ihnen bei der Planung besonders wichtig?
Marg: Es sollte nie wieder eine monofunktionale Stadterweiterung geben. Hamburg hatte die City Nord: eine reine Bürostadt. Oder den Osdorfer Born: eine reine Wohnsiedlung. Monokultur erstickt die Diversität des Lebens. Die sollte nicht mehr neu entstehen.
WAMS: Neben Ex-Bürgermeister Henning Voscherau waren Sie und Peter Dietrich die treibenden Kräfte…
Marg: Ja, unter Peter Dietrich hat die Hamburger Hafen- und Lagerhaus AG getarnt durch die diskrete Tochter GHS (Gesellschaft für Hafen- und Standortentwicklung) begonnen, Firmen in der heutigen HafenCity aufzukaufen. Er tat das absolut heimlich, mit persönlichem Risiko. Die Hamburger Kaufleute hatten zur Kaiserzeit Marx weit links überholt und für die Freihafenentwicklung alle Flächen sozialisiert. Jetzt ging es um die Verlagerung von Hafenbetrieben mit langfristigen Mietverträgen. Das war nötig, weil der neue Stadtteil sonst nie entstanden wäre. Die damit verbundenen Spekulationen mit Verlegungskosten wären enorm gewesen. Ich war anfangs der Stadtplaner, der ihn inspirierte: „Hafenleute gebt etwas her, was ihr nicht mehr braucht, und ihr kriegt stattdessen, was ihr wirklich braucht.“ So bekam die Stadt Flächen für die heutige HafenCity frei und anstelle des Dorfes Altenwerder im Hafenerweiterungsgebiet konnte der erste automatisierte Containerhafen Europas entstehen.
WAMS: Der war revolutionär für die Umschlagtechnik. Braucht es heute auch wieder eine solche Standortmobilität?
Marg: Die bräuchte es. Der Hafen ist in einem totalen Wandel. Wir kennen die Fragestellungen etwa aus dem Ruhrgebiet: Was macht man mit einer sich wandelnden Industrie, die nicht mehr alles besetzen kann, was sie mal besetzt hatte? Wie steuert man einen Transformationsprozess? Genau das steht Hamburg jetzt bevor.
WAMS: Was bedeutet das konkret für die Zukunft des Hafens?
Marg: Der Hafen war noch nie allein ein Umschlagplatz. Er war immer auch Produktionsstandort, und das muss er wieder werden. Es geht dabei auch um Forschung, Entwicklung, wissensbasierte Arbeit. Das braucht eine moderne Metropole, um mit der Zeit Schritt zu halten. Dafür braucht es gut erschlossene Flächen. Und die gibt es reichlich. Der Hafen hat heute Teilbrachen und viele untergenutzte Areale, veraltete Gleisflächen, Lagerplätze an besten Stellen, fast ohne Arbeitsplätze. Man muss aufräumen. Und zwar strategisch.
WAMS: Sie sprechen von einer „Teilbrache“. Ist das nicht übertrieben?
Marg: Nein. Der letzte Hafenentwicklungsplan ist voller Leerflächen – schauen Sie sich den mal an – sie finden keinen einzigen gezeichneten Plan für Veränderungen. Nur wolkige Texte, etwa über Wasserstoffproduktion als pars pro toto. Keine konkreten Daten oder Bestandsanalysen. Dabei ist der Hafen das besterschlossene Industriegebiet Deutschlands: Mehrere Autobahnen, Eisenbahn mit dem größten Güter-Verschiebebahnhof Europas, leere Hafenbecken für Hochseeschiffe, sogar für Airbus eine drei Kilometer lange Landepiste. Und trotzdem liegt vieles brach.
WAMS: Was meinen Sie, wenn Sie sagen, der Hafen müsse „aufgeräumt“ werden?
Marg: Viele Flächen im Hafen sind freie oder arbeitsarme Lagerflächen für LKW. An den besten Stellen, auch für die urbane Erschließung. Das ist absurd. Es fehlt eine übergeordnete, eine aufeinander abgestimmte Strategie mit der Stadtentwicklung. Das ist dringend nötig. Der Hafen ist nicht nur voller Brachflächen, besonders dort, wo sich die Petroindustrie zurückgezogen hat. Viele Flächen könnten für neue Nutzungen erschlossen werden – aber dafür braucht es Planung, und vor allem den politischen Willen das längst veraltete Hafenentwicklungsgesetz durch ein neues zu ersetzen, weil es jede multifunktionale Entwicklung verbindet, die sich nicht unmittelbar aus dem Güterumschlägen am Kai ergibt. Jeder Quadratmeter in der Stadt unterliegt einem ordnenden Rechtsprozess mit langfristigen Entwicklungsperspektiven und Bebauungsplänen. Im Hafen verweilt man in einer anderen Welt mit überkommenen Strukturen und wartet, womit einen die Zukunft überrascht.
WAMS: Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Marg: Es gibt zum Beispiel keine Planung, wo Gefahrengut sinnvoll und sicher gelagert werden darf – stattdessen liegt es verstreut an attraktivsten Stellen. Das blockiert nahegelegene Arbeitsplätze oder urbane Entwicklungsflächen, etwa für das zukünftige Hafenmuseum oder neue Stadtquartiere am Hafenrand. Wussten Sie das: Die Musicalhäuser im Hafen müssen im Ernstfall das Publikum drinnen behalten, wenn es nebenan Gefahrgutalarm gibt? Und auf die 34 Millionen restaurierte Vier-Mastbark „Peking“ vor den Denkmalschuppen dürfen nur ganz wenige Besucher, weil auch dort nebenan Gefahrengüter lagern. Dabei gäbe es im Hafen genug Raum, um das Gefahrgut in Hafenbereiche zu verlagern, wo es nur Industrie gibt und kaum jemand gefährdet würde. Aber es braucht den Willen, das systematisch zu lösen. Jetzt wird aus diesem logistischen Detail ein Handicap für städtebauliche Entwicklung.
WAMS: Zuständig ist dafür zumeist die Hamburg Port Authority. Was müsste die HPA tun?
Marg: Die HPA gehört zur Wirtschaftsbehörde und die müssen beide intensiv auf gleicher Augenhöhe mit der Stadtentwicklungsbehörde für eine gemeinsame übergeordnete Strategie im Sinne des städtischen Entwicklungsinteresses planen. Nur so werden die Potenziale des Hafens auch für die Stadtentwicklung fruchtbar.
WAMS: Wäre das nicht auch eine politische Aufgabe? Etwa für die Wirtschaftssenatorin?
Marg: Melanie Leonhard ist eine sympathische und kluge Frau. Sie ist in ihrer Rolle als Wirtschaftssenatorin nicht nur dem Hafen, sondern der ganzen Stadt verpflichtet. Allein die HPA ist eine Riesenbehörde mit rund 1800 Mitarbeitenden. Die vertritt einäugig die Interessen der Hafenwirtschaft nach Maßgabe des veralteten Hafenentwicklungsgesetzes. Genau das gilt es aber in Frage zu stellen und zu reformieren. Bei dem Konflikt Tunnel oder Brücke hat sie politischen Mut bewiesen. Aber für eine grundlegende Reform des Hafenentwicklungsgesetztes mit Berücksichtigung gesamtstädtischer Interessen fehlt es wohl noch an fachlichem Rat.
WAMS: Sie deuten es an: Bei der Entscheidung für eine neue Kühlbrandbrücke hat es den Anschein gemacht, als hätte Melanie Leonhard die fortgeschrittenen Tunnelpläne gestoppt…
Marg: Ja. Auch Hamburg kann sich nur leisten, was es auch bezahlen kann. Ursprünglich war ein Tunnel geplant – was auch sinnvoll gewesen wäre. Aber man hat sich erst nachträglich mit dem Untergrund beschäftigt. Jetzt muss es aus Kostengründen eine neue höhere Brücke werden.
WAMS: Ist die Brücke denn überhaupt noch entscheidend für den Hafen?
Marg: Ja, die alte hält nicht mehr ewig. Die Brücke war aber weniger wegen ihrer inzwischen zu geringen Höhe das Problem. Viel vernünftiger wäre es gewesen politisch eine Allianz mit anderen deutschen Häfen am tiefen Wasser zu bilden – mit Bremen, mit Wilhelmshaven. Aber das hat man nicht geschafft. Das vertiefte Elbfahrwasser und die bestehenden Hamburger Containerterminals samt ihren Flächenreserven sind nicht problematisch. Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Automatisierung beim Umschlag Arbeitsplätze vermindert, weil solche nur noch dort entstehen, wo Container gefüllt und geleert werden, leider weit weg vom Hafen. Darum braucht Hamburg für den Hafen eine zukunftsweisende Belebung.
WAMS: Viele Hamburgerinnen und Hamburger hängen aber an ihrer Köhlbrandbrücke. Können Sie das nachvollziehen?
Marg: Natürlich. Die Gewöhnung an ein Sinnbild wird zum Sentiment. Das ist wie bei allem Nippes. Erst findet man’s komisch, dann wird’s geliebt.
WAMS: Wird das wohl auch beim Elbtower einmal so sein? Glauben Sie an dessen Zukunft?
Marg: Ja, natürlich. Der Elbtower wird gebaut. Da ist eine halbe Milliarde Euro schon versenkt – wenn man den jetzt abreißen oder stoppen wollte, würde das noch mal eine Viertelmilliarde kosten. Das kann sich niemand wünschen. Also wird er fertig gebaut. Alles andere wäre weitere Vergeudung.
WAMS: Die Stadt diskutiert über eine mögliche Nutzung durch das Naturkundemuseum. Was halten Sie davon?
Marg: Ich kann die Stadt gut verstehen. Der Inhalt ist schon da. Sie will das Museum bauen, aber nicht zu teuer. Und sie weigert sich eine kapitalistische Fehlspekulation mit Steuergeldern zu retten. Aber ein Mietvertrag als Ankermieter zur Animation neuer Investitionen – darüber muss man jetzt verhandeln. Es geht nur noch um den Preis. Und natürlich muss man ein bisschen pokern. Das ist Taktik.
WAMS: Sie haben in ihren 60 Jahren in Hamburg viele Projekte miterlebt. Wie bewerten Sie die Entstehungsgeschichte des Elbtowers?
Marg: Unser damaliger Bürgermeister Olaf Scholz wollte den Bau an dieser markanten Stelle nach den negativen Erfahrungen mit der Elbphilharmonie zur Chefsache machen. Das kann ich verstehen. Aber dass die Stadt und sogar die finanzierenden Investoren auf einen Scharlatan hereingefallen sind – das ist in einer Kaufmannsstadt schon bemerkenswert. Er war nicht der erste. Ich denke da an Jürgen Schneider in den 1990er Jahren. Erfahrung ist leider nicht erblich, also probiert man sie immer neu. Das haben wir alles schon erlebt. Ich beneide solche Zauberer fast – sie sind geniale Täuscher und legen alle rein. Ich wünschte, man könnte das mal für gute Zwecke machen.
WAMS: Bleiben wir kurz bei Olaf Scholz. Es gibt ein weiteres Projekt, das er zur Chefsache gemacht hat, mit dem er aber grandios gescheitert ist: die Olympiabewerbung 2015. Nun bewirbt sich Hamburg erneut. Was halten Sie davon?
Marg: Die letzte Bewerbung war brillant. Unabhängig davon, ob man Olympia will oder nicht – das Konzept war hervorragend. Es ging nicht darum, für zwei Wochen ein Milliarden-Spektakel zu veranstalten, sondern darum, einen neuen Stadtteil zu bauen. Olympia war nur der Katalysator. Alles hätte man dauerhaft nutzen können: das ungebaute Stadion als Wohnungsring wie eine Piazza Navona, die Schwimmhalle als Cruise Center. Es wäre eine Synthese aus Stadtentwicklung und sportlichem Großereignis geworden. Die jetzige Bewerbung hat diese brillanten Standortvorteile nicht.
WAMS: Wenn alles so brillant war, warum ist es gescheitert?
Marg: Weil Olaf Scholz als erfahrender Taktiker nichts falsch machen wollte. Und was macht man, wenn man nichts falsch machen will? Man macht nichts oder man sichert sich Hunderttausendfach ab. Also hat er eine unnötige Volksabstimmung angesetzt. Und die ist schiefgegangen. Das war ein Schuss in den Ofen.
WAMS: Ist damit die Chance vertan, den Sprung über die Elbe zu schaffen?
Marg: Nein, das nicht. Der ist zu einer städtebaulichen Selbstverständlichkeit geworden. Dazu war damals die Synergie mit Olympia als Katalysator hilfreich. Es wäre leichter gewesen und ein starkes Signal „Hafen und Stadt“ gemeinsam zu entwickeln. Aber die Stadt wächst und braucht weiterhin eine klare, langfristige Strategie, und da vertraue ich auf eine gut beratene Bürgerschaft und einen etwas mutigeren Senat.
Redakteurin Julia Witte genannt Vedder arbeitet in der Hamburg-Redaktion von WELT und WELT AM SONNTAG. Seit 2011 berichtet sie über Themen aus Hamburg und Norddeutschland.