Wer schon mal pappsatt im Restaurant vor seinem vollen Teller saß, weiß, wie schrecklich sich das anfühlt: Was gerade noch unwiderstehlich schien, schmeckt mit jeder Gabel qualvoller, bis schlicht nichts mehr geht.

Auf den Verlust der Lust folgt die Verzweiflung, weil man so gern wieder hungrig wäre. Dann setzt das Schuldgefühl ein, weil Völlerei als Sünde zählt, schlimmer aber die Verschwendung ist. So jedenfalls wurde ich noch erzogen. Das Doggy Bag schafft etwas Abhilfe, nur weiß man auch, dass die angetrockneten Reste aufgewärmt nicht mehr dasselbe sind.

Seit zwei Jahren unterm Radar

Jobbedingt kommt bei mir zu Verlust, Verzweiflung und Schuldgefühl noch etwas anderes hinzu: Die Angst vor der Verzerrung. Keinesfalls darf ich die ersten Gänge besser beurteilen, nur weil ich noch richtig hungrig bin. Zu meinem Berufsethos gehört, dass ich einen möglichst objektiven, vor allem konstanten Maßstab ansetzen will.

Feed the Pony auf der Neuköllner Schillerpromenade.

Feed the Pony auf der Neuköllner Schillerpromenade.Sarah Schlopsnies

Kürzlich war ich in einer besonders heiklen Situation. Ich hatte Sonntagabend im Feed the Pony reserviert, einem Restaurant mit bester Produktküche, das seit zwei Jahren unterm Radar laufe, wie mir einer meiner Foodie-Kollegen mit Nachdruck versicherte. Auch hatte er mir nahegelegt, nicht à la carte zu bestellen, sondern das für 50 Euro unschlagbare Fünf-Gänge-Menü von Hannah Cooper zu testen.

Diese junge Köchin aus Norddeutschland sei sehr begabt, ihren irischen Mann Martin habe sie im Nachfolger des weltberühmten Restaurants Noma in Kopenhagen kennengelernt. Nach etlichen Feed-the-Pony-Pop-ups in Dublin und Berlin, Stationen im Palsta und der Brasserie Lamazère wagten sich beide ans erste eigene Restaurant im Schillerkiez.

Normalerweise versuche ich nicht allzu spät Mittag zu essen, wenn ich abends testen gehe. An diesem Sonntag entwickelten sich die Dinge aber sehr spontan: Freunde, die ich mittags zum Ceviche eingeladen hatte, kamen Stunden zu spät und hatten – entweder aus schlechtem Gewissen oder Angst vor rohem Fisch – eine Riesenschüssel Spaghetti alla puttanesca dabei. Dann stießen andere dazu, brachten Hummus und Blumenkohlsalat, eine belgische Freundin eine Apfeltarte.

Als ich um 20.30 Uhr im Feed the Pony ankam, war ich satt. Nicht pappsatt, aber definitiv minus-hungrig. Dass mich das Menü trotzdem bis hin zum Rhabarbersorbet auf Kürbiskernbiskuit und Estragon-Öl begeistert hat, ist Hannah Cooper anzurechnen. Sie zaubert mit besten lokalen Produkten und nordischen Ideen vollmundige Aromen auf die Teller, die trotzdem leicht schmecken und leicht verdaulich sind.

Was man sieht und schmeckt, ist die Liebe zu guten Produkten.

Was man sieht und schmeckt, ist die Liebe zu guten Produkten.Sarah Schlopsnies

Dazu gleich mehr, ich muss erst Folgendes loswerden: Dieses Ehefrau-Ehemann-Team zu erleben, ist herzerwärmend. Spürbar haben sich zwei von der gleichen Sorte Leidenschaft gefunden. Martin Cooper ist ein Gastgeber, der sehr viel geben will. Manchmal auch sehr viele Infos. Sei es zum nachhaltigen Meersalz aus Irland, sei es zum spontan vergorenen Cuvée Nature von Nicola Gatta aus der Lombardei, der es – wie im Kurzreferat versprochen – tatsächlich mit Champagner aufnehmen kann.

Nie jedoch langweilt er, ebenso wenig wie die Küche von Hannah, die voll unvorhersehbarer Ideen steckt: Mal kombiniert sie Spätzle mit einem Kombu-Algensud, mal überrascht eine belgische Waffel mit Schwarzbiernote und Sauerkraut.

Doch fangen wir mit dem Brot an. So startet das Menü: Zum Geburtstag, erzählte mir Martin, schenke er Hannah stets etwas für die Küche, zuletzt eine elektrische Getreidemühle. Ich wäre wohl von meinem Mann bald genervt, nicht so Hannah. Seitdem backt sie im Feed The Pony nicht nur das Brot selbst, sondern mahlt auch das Mehl. Martin ist überzeugt: So frisch schmecke es nicht nur besser, es sei auch verträglicher bei Zöliakie.

Gesalzen, geräuchert und frittiert

Letzteres kann ich nicht beurteilen. Ich merkte jedoch, dass das dunkle Roggenbrot, das einen Dinkelanteil hat und luftig wie Kuchen ist, auch ohne Appetit zur mit Seetang aufgeschlagenen Butter gut runtergeht. Ebenso die krachenden Brezelstückchen als Snack mit dem Hefeemulsion-Dip.

Bretzelsnack, deutsch und dann auch wieder nicht.

Bretzelsnack, deutsch und dann auch wieder nicht.Sarah Schlopsnies

Die folgende Schwarzbier-Waffel könnte weniger Salz vertragen. Ich mochte jedoch, wie die sanfte Senf-Mayo und das fast adstringierende Sauerkraut darauf die Geschmacksnerven aufwecken.

Martin kündigte als nächsten Gang eine Vichyssoise mit Bakskuld an. Dies sei eine skandinavische Zubereitungsmethode für Fisch, hier eine lokale Forelle, die gesalzen, geräuchert und dann frittiert werde.

Die gemeinsame Liebe zu guten Produkten und Handwerk sieht man dem Laden an. In den ist nämlich kaum Geld reingeflossen. Das Paar hat ein mit Kitsch überladenes französisches Café namens Renard – französisch für Fuchs – übernommen. Noch konnte Martin nicht sämtliche Fuchsdeko beseitigen. Nach und nach ersetzt er Eiffelturm-, Croissant- und Baguettebilder mit seinem Banksy Lieblingsplakat und dem vom heimatlichen Golfplatz. Am wichtigsten waren ihm neue Bezüge für die Stühle und Bänke aus irischem Leinen, schließlich ist seine Mutter gelernte Polsterin und auf Leinenstoff spezialisiert, erfuhr ich.

Ansonsten investieren die beiden Geld und Zeit lieber, um etwa die Vichyssoise, eine kalte, würzige Suppe auf Basis von Kartoffeln, Lauch und Zwiebeln, zu perfektionieren. Wie von Martin vorhergesagt, schmeckt der Bakskuld darin wie Bacon. Weitere passende Einlagen sind blanchierte, leicht säuerliche Kartoffelschnitzen sowie gegrillte Erbsen, abgerundet mit gehobeltem Meerrettich und wildem Knoblauchöl.

Rehrücken, Kopfsalat, Bärlauch und Jus

Rehrücken, Kopfsalat, Bärlauch und JusSarah Schlopsnies

Dieses wunderbar leichte Sommergericht kam mir sehr entgegen, ebenso leicht schmecken ausgerechnet die handgeschabten Spätzle, auf die ich gar keine Lust hatte: Statt einer schweren Käsesoße hat Hannah sie in eine Brühe aus Kombu-Alge und Sellerie gepackt und mit knackigen Buschbohnen, etwas Spargel und Sauerampfer kombiniert.

Einziger Käse ist gereifte Belper Knolle, die als Finish darübergeraspelt wird. Auch erfreute mich der Kopfsalat dazu, für dessen Vinaigrette Blattgrün püriert wird. Wer fleischhungrig wie mein Mann ist und zwölf Euro mehr zahlt, kann alternativ zu den Spätzle supersofte Rehrücken-Medaillons genießen, die in brauner Butter gezogen und kurz angegrillt sind. Innovativ auch: Statt heißer Soße gibt es mit Mayo aufgeschlagenen, kalten Rehjus dazu.

Mein Mann fand es richtig gut. Auch vom moderat süßen Dessert sollte ich ein paar Löffel probieren, obwohl ich jetzt doch im Stadion der Verzweiflung angekommen war. Das Rhabarbersorbet mit Frischkäsecreme auf einem Sockel Sponge-Biskuit sah zudem urkomisch aus: Wie ein loses Gebiss mit Zahnreihe. Die durch die Spritztüte gedrückte Frischkäse-Zahnreihe war herzhaft, der hautfarbene Rhabarber-Gaumen herrlich säuerlich, der nussige Sockel aus Kürbiskernbiskuit fügte passenderweise Estragon hinzu. Schuldgefühle kamen gar nicht erst auf, weil mein Mann meines mitaß. Und die wenigen Reste, wie das Brot, wurden mir als Doggy Bag eingepackt. Hiervon etwas zu verschwenden, wäre eine Sünde.

Snacks 4,50–6 Euro, Vorspeisen 9–16,50 Euro, Hauptspeisen 25–36 Euro, Dessert 11 Euro. 5-Gang-Menü vegetarisch 50 Euro, mit Fleisch plus 12 Euro

Feed the Pony. Schillerpromenade 37, 12049 Berlin, Fr–So 18–22 Uhr, kitchen@feedthepony.de, www.feedthepony.de