J edes Mal, wenn aus dem „Nachbarland“ eine neue Ladung Munition Richtung Odessa fliegt, denke ich an die Kinder. Man hört die Luftabwehr, dann die Explosionen – die erste, die zweite, die dritte… Und ich stelle mir vor, wie meine Kinder auf diesen Beschuss reagieren würden. Meine Tochter würde sicher laut rufen: „Papa, ich habe Angst!“. Während mein Sohn so etwas Lakonisches sagen würde wie: „Jetzt müssen wir alle sterben“.

Zum Glück passiert das nur in meiner Phantasie. Bei jedem Beschuss danke ich dem Schicksal, dass meine Kinder in einem anderen Land sind, in dem kein Krieg herrscht. Aber wenn ich morgens das Haus verlasse, sehe ich die Kinder, die hier geblieben sind, im Krieg. Bei uns sagt man: „Fremde Kinder gibt es nicht“.

Bild:
privat

Artem Perfilov

Freiberuflicher Journalist und lokaler Produzent aus der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Seit Beginn der russischen Großoffensive in der Ukraine begleitet er ausländische Journalisten, unter anderem in die Frontgebiete.

Wenn ich sie sehe, weiß ich, dass sie vermutlich nachts im Korridor oder Keller gezittert und geschrien haben. Dass sie schon psychische Probleme und Schlafstörungen haben. Und das vielleicht bis zum Ende ihres Lebens. Es ist dann schwer, die Tränen zurückzuhalten. Besonders schlimm ist das Städten wie Cherson, Slowjansk oder Nikopol, wo der Beschuss fast nie aufhört, während die Kinder auf der Straße spielen.

Krieg in der Ukraine

Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.

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Man möchte die Eltern anschreien: „Nehmt eure Kinder und dann nichts wie weg!“ Obwohl man weiß, dass sie nicht gehen werden. Denn wohin sollten sie gehen? Die Väter sind in der Armee. Die Mütter waren vielleicht sogar mal weg, sind aber längst wieder zurück, weil sie sich nicht an das Leben im Ausland gewöhnen konnten. Und in der Ukraine wird ja sowieso überall geschossen, wie sie sagen würden. Deswegen sind sie in die frontnahen Städten zurückgekehrt, nach Hause, mit ihren Kindern.

Unterricht zum Überleben

Die Kinder kennen kein anderes Leben mehr. Mit etwas Glück lernen sie in Kellern oder Metro-Stationen. Sonst bleibt nur Online-Unterricht im Bunker, mit schlechtem Netz. Dafür lernen sie, wie eine fliegende Rakete klingt, wohin man bei Drohnenbeschuss rennen muss und wie man Verwundeten Aderpressen anlegt. Das hilft ihnen zu überleben, es macht sie disziplinierter und… leiser. Denn jedes laute Geräusch wird als Beschuss wahrgenommen, sodass die Kinder selbst im sicheren Ausland vor Flugzeugen und Feuerwerk Angst haben.

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Und ständig spielen sie Krieg. In meiner Kindheit haben wir das auch manchmal gemacht, es gab „Unsere“ und „die Faschisten“. Für die ukrainischen Kinder heute gibt es „Unsere“ und „die Russen“. Unabhängig davon, welche Sprache sie selber sprechen übrigens.

Bei den älteren Jugendlichen dreht sich viel um den Schulabschluss. In Charkiw haben gerade Absolventen ihren traditionellen Abschlusswalzer in den Ruinen ihrer von einer russischen Rakete zerstörten Schule getanzt. Relativ viele Absolventen bemühen sich um Studienplätze im europäischen Ausland. Die meisten von ihnen werden danach kaum in die Heimat zurückkommen, denn sie möchten nicht unter ständigem Beschuss leben oder dauernd in den Keller laufen.

Warum ich das alles erzähle? Einfach, damit Sie nicht vergessen, Ihr Kind zu küssen und in den Arm zu nehmen. Ich hoffe, dass Sie diese Möglichkeit haben.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey