Mit überzeugenden Siegen in der Gruppenphase kennen sich die Französinnen aus. Das machen die nun mal so. Und doch: Ist nach dem 2:1-Auftakterfolg gegen England diesmal, bei der EM in der Schweiz, alles anderes? Bringt es Frankreich diesmal zusammen? Was nach den Erkenntnissen des bärenstarken Auftritts in Zürich dafür spricht, was dagegen – und eine historische Einordnung.

Rückblende, vor zwölf Jahren. Frankreich schnitt durch die Vorrunde der EM in Schweden und in einem ansonsten spielerisch recht schwachen Turnier stach die Truppe von Teamchef Bruno Bini in vielerlei Hinsicht heraus. Frankreich bewegte sich als Einheit ideal, war annähernd perfekt eingespielt, es war wie ein Wassertropfen: Das ganze Gebilde veränderte immer wieder seine Form, aber es riss nie, weil stets durch die immer passenden Laufwege die Gesamt-Stabilität gewahrt blieb.

Frankreich presste an, sehr gezielt, schüchterte die Gegner ein, erkannte Schwachstellen und bohrte sie erbarmungslos an. Und im Ballbesitz gab es immer eine offene Option, die Spielerinnen wussten stets schon vorher wo der nächste Pass hin soll. Russland war komplett überwältigt, die damals noch ziemlich grünen Spanierinnen recht kleinlaut, ein heilloses England zerfiel in die Einzelteile. Die Französinnen waren das mit dramatischem Abstand beste Team des Turniers, bis sie im Viertelfinale gegen Dänemark in einen Konter liefen, danach gegen eine clevere Mauer anrennen mussten und schließlich im Elfmeterschießen ausschieden.

Wie wäre die Geschichte anders verlaufen, wenn man damals weitergekommen wäre? Nicht gegen die geschickten Dänninnen, sondern gegen den anderen Gruppendritten Island ran gedurft hätte? Hätte man das überlegene WM-Viertelfinale zwei Jahre später gegen Deutschland rübergebracht und, als erneut eigentlich klar bestes Team des Turniers in Kanada, den WM-Titel nachgelegt? So oder so: Diese beiden Spiele, das in Linköping gegen Dänemark und das in Montréal gegen Deutschland, festigten das Bild, das Frankreich im Frauenfußball hat: „Der ewige Mitfavorit, der noch immer irgendwie auf halber Strecke eingefädelt hat, nicht selten mit klarer Zwischenbestzeit, mindestens genauso oft mit angespanntem zwischenmenschlichem Innenleben.

Frankreich vs. Lyon

Die starke spielerische Note, die Frankreich unter Bini bis 2013 bzw. dann noch mit Bergeroo bis 2015 ausgezeichnet hatte, ist vor allem in den letzten Jahren einer etwas freudlosen, funktionalen Athletik gewichen. Das wurde nach der Amtszeit von Hervé Renard (mit den Viertelfinals bei WM 2023 und Heim-Olympia 2024) durchaus mit monierndem Unterton konstatiert. Gleichzeitig sind seit Jahren die Spannungen da – zwischen dem Staff beim Verband und den Spielerinnen von Olympique Lyon bzw. aus deren Dunstkreis.

Corinne Diacre hatte von 2017 bis 2022 auf offene Konfrontation gesetzt, damit auch die Stimmung im Team-Camp vergiftet. Hervé Renard hat in der Folge Le Sommer und Henry schon eingebunden, aber nicht mehr als Stamm; Wendie Renard blieb gesetzt. Bonadei setzte Le Sommer wiederum vor die Tür, Amel Majri ebenso, er eliminierte vor der EM auch die Säulenheilige Wendie Renard. „Ich will andere Ergebnisse als früher, also setze ich auf andere Spielerinnen.“

Rumms.

Achter überladen gegen Stanway

Frankreich spazierte im Frühjahr gegen unterlegene Konkurrenz – Norwegen, Island, Schweiz – ohne Punktverlust zum Gruppensieg in der Nations League, wurde dabei gegen den Ball kaum gefordert und konnte die Spiele nach Belieben diktieren. Das ließ England nun in beider erstem EM-Auftritt zunächst nicht zu, die Lionesses nützten die fehlende Abstimmung in der Abwehr, in der die international noch sehr unerfahrene Sombath die angeschlagene Kapitänin Mbock-Bathy ersetzten musste – die Defensive ist fraglos das größte Fragezeichen, das bei Frankreich noch besteht.. Nach etwa 15 Minuten aber und nachdem das vermeintliche englische 1:0 wegen eines haarscharfen Abseits nicht zählte, drehte Frankreich auf.

Drei Aspekte ließen die Engländerinnen verzweifeln. Zum einen, dass die beiden Achter – Karchaoui und Geyoro – sich oftmals im selben Halbfeld aufhielten, nämlich in jenem von Georgia Stanway, der es nach monatelanger Verletzungspause noch an Matchpraxis fehlt. Durch diese Überladungen nahm Frankreich Stanway aus dem Spiel und zwang Linksverteidigerin Jess Carter dazu, sich zunehmend aus der Position ziehen zu lassen – sehr zur Freude von Flügelstürmerin Delphine Cascarino.

Hinter ihnen stand Oriane Jean-François auf der Sechs, sie ist spielerisch wesentlich limitierter als die üblicherweise dort aufgestellte Sandie Toletti, hat aber ein enormes Gespür dafür, wann sie in welchen Zweikampf gehen muss. Sie deckte hinter den beiden Achtern so gut ab, dass England keine Chance hatte, Drucksituationen über die bewegliche Lauren James auf der Acht aufzulösen.

Extremes Gegenpressing im Angriffsdrittel

Der zweite Aspekt, mit dem England überhaupt nicht zurecht kam, war das französische Gegenpressing – und hier kommt wiederum die funktionale Athletik ins Spiel. Es kommt auf dem TV-Bild gar nicht so extrem rüber, aber wer Sandy Baltimore oder die später eingewechselte Kadi Diani schon mal live im Stadion gesehen hat, weiß: Das sind brutale Kanten, die rennen einen um, und das tut auch entsprechend weh.

Die in der WSL gestählten Engländerinnen, sehr erstaunlich, wurden körperlich komplett dominiert, sie hatten dem aggressiven französischen Zweikampfverhalten rein gar nichts entgegen zu setzen. Sogar Lucy Bronze, die auf hohem internationalen Niveau routinierste Engländerin, war so durch den Wind, dass sie im Zweikampf im Fünfmeterraum den Ball genau Baltimore vor die Füße spitzelte, die die Kugel nur noch reinhämmern musste.

Rasche Auffassungsgabe

Und letztlich, das spielt bei den ersten beiden Aspekten auch mit, waren die Französinnen auch in puncto rascher Auffassungsgabe überlegen. Das war nicht nur vor dem Tor zum 1:0 zu sehen, als Élisa de Almeida einen ungenauen Pass ins englische Angriffsdrittel abfing, sofort nach vorne dachte, den Ball kontrollierte und im exakt richtigen Moment den Steckpass in die Schnittstelle auf Cascarino spielte. Carter – die generell selten gut postiert war und nach einer Stunde auch ausgewechselt wurde – hechelte nur hinterher und Baltimore musste in der Mitte nur noch den Fuß hinhalten.

Das war die 36. Minute, das 1:0 war längst überfällig und das 2:0 sollte keine drei weitere Minuten auf sich warten lassen. Auch nach dem Seitenwechsel blieb es dabei, dass Frankreich im Kopf schneller war, in den Beinen rascher war und mit dem Körper robuster – auch, wenn man sich im Block etwas weiter hinten postierte. England kam nicht zur Geltung und die Gefahr, dass das Spiel kippt, war bis zur 87. Minute gleich null. Erst nach dem aus dem Nichts fallenden Anschlusstreffer (nach einem Eckball) schnupperte England noch am Remis.

„Nur Gott weiß, warum ich nicht dabei bin!“

Hervé Renard hat nach den toxischen Diacre-Jahren das Gift aus dem Verhaltnis zwischen Verband und Spielerinnen herausgenommen, das Problem des endgültigen Aussortierens der großen Lyon-Generation aber seinem Assistenten und Nachfolger Laurent Bonadei überlassen. Wendie Renard nahm die Ausbootung nicht gut auf. „Nut Gott weiß, warum ich nicht im Aufgebot bin“, ließ sie sich von einer Zeitung in ihrer Heimat Martinique zitieren.

Lyon hat in den Zehner-Jahren den europäischen Klub-Frauenfußball dominiert. Als OL im Jahr 2011 erstmals die Champions League gewann, waren Torhüterin Bouhaddi (die im Krach mit Diacre zurückgetreten ist), Renard, Henry und Le Sommer schon dabei. Beim achten Titel 2022 waren Renard, Henry und Le Sommer immer noch auf dem Feld. Gemeinsam mit Camille Abily, Louisa Nécib und Laura Georges für ein dominantes Spiel mit dem Ball am Fuß.

Die Finals zum ersten und zum achten UWCL-Titel von Lyon. Eugénie Le Sommer ist 2022 eingewechselt worden.

Die Geburtsstunde eines neuen Frankreich?

Gleichzeitig wurde durch die gezielte Ausbildung in Clairfontaine – wie bei den Männern – aber eine athletisch robuste Spielerin nach der anderen herausgebracht. In diesem Umfeld waren die Wortführerinnen von Lyon zwar mit einer gewichtigen Stimme ausgestattet, vor allem dank ihrer Kontakte zu den Medien, die um jede kontroverse Story dankbar sind. In einem immer mehr auf Athletik und immer weniger auf Spielkunst ausgelegten Nationalteam wurden sie gleichzeitig aber immer mehr zum inkompatiblen Anachronismus.

Dieser Sieg gegen England kann die Geburtsstunde eines neuen Frankreich sein. Jener Moment, jener Tag, an dem die alten Lyoner Zöpfe endgültig abgeschnitten wurden und ein Zeitalter des großen Potenzials und des noch größeren Under-Achievements auf Nationalteam-Ebene beendet werden konnte. Dann würden auch die Drohungen von Kenza Dali, die ebenfalls von Bonadei aussortiert wurde, ins Leere laufen: „Es wurde viel gelogen und nach der EM werde ich meine Seite der Geschichte erzählen!“ Wortmeldungen wie jene von Dali und Renard könnten aber auch klar machen, warum sie nicht im Kader aufscheinen.

Es kann aber eben natürlich auch sein, dass Frankreich, weil es eben Frankreich ist, einer starken Vorrunde eine wackelige K.o.-Runde folgen lässt, spätestens in einem programmierten Semifinale gegen Spanien wieder eingeht wie die Primeln und man ähnlich chancenlos wäre wie im Nations-League-Finale gegen Spanien vor anderhalb Jahren. Damals war Frankreich eingeschüchtert wie das Kaninchen vor der Schlage.

Genau so wie es in Zürich nun England war – von Frankreich.