An einem Sommertag fahren wir über kleine Waldwege entlang des Allebogens. Wir haben es im zweiten Anlauf, mit Hilfe eines spezialisierten Reisebüros, in die Oblast Kaliningrad geschafft. Gleich nach der Brücke links, hat man uns in der früheren Kreisstadt Friedland erklärt, wo die alte deutsche Karte meines Vaters, auf der noch „Kukehnen“ eingezeichnet war, verstanden und reibungslos in die russische Moderne übersetzt wurde: Ladoschskoje!

Die hübsch gewundene Straße endet vor einem Eisentor, das mit einem Schloss verriegelt ist. Ein Schild warnt in kyrillischer Schrift, dass das Betreten des Privatgeländes verboten sei, was in Oleg, unserem Übersetzer, nur mäßige Enttäuschung hervorruft. Wir haben schon einen langen Tag hinter uns, voller Irrfahrten und Gespräche, und vor uns liegt noch der Rückweg nach Kaliningrad. „Das war’s wohl“, sagt Oleg mehr bestimmt als mitfühlend. Sollten wir am Ende unserer Reise angekommen sein?

Anton, mein Sohn, macht Oleg auf die Telefonnummer aufmerksam, die am Rand des Verbotsschildes steht, und schlägt vor, einfach anzurufen. Wer würde schon ein paar harmlosen Heimwehtouristen die Bitte abschlagen, sich auf einem offenkundig verlassenen Grundstück ein bisschen umzusehen?

Ankunft im Niemandsland

Bisher wurden wir freundlich empfangen in diesem Teil Russlands, der einmal Deutschland war. Die Menschen nickten uns zu oder ignorierten uns höflich, als mein Vater in Friedland seine alte Grundschule inspizierte und vergeblich nach dem Stall des Kolonialwarenhändlers Friesel suchte, wo er vor dem Unterricht sein Pony abgegeben hatte. Im „Kunst- und Geschichtsmuseum“, das in einer schmucklosen sowjetischen Baracke untergebracht ist, zeigte uns die Kuratorin Fundstücke, Karten und Fotos, die an die Schlacht von Friedland erinnern, wo die preußisch-russischen Truppen vernichtend von Napoleon geschlagen wurden, aber auch an den Einmarsch der Roten Armee im Januar 1945. Dann holte sie vergilbte Alben aus dem Magazin, in denen wir tatsächlich Bilder unserer Familiengüter entdeckten. Die Kuratorin war davon fast so begeistert wie wir.

Oleg wählt die Nummer in Kaliningrad, aber niemand hebt ab. Unschlüssig stehen wir eine Weile vor dem Verbotsschild und blicken auf das Gelände dahinter. Die Abendsonne wirft ein warmes Licht auf die Wiesen. Hinter dem Eisentor, das in einen weit gespannten Zaun eingelassen ist, führt der Weg in einer weich geschwungenen Kurve weiter und verliert sich in einem Waldstück. Zwei Backsteingebäude sind hinter dem Tor zu sehen, Scheunen vermutlich, die überraschend gepflegt wirken. Das Grundstück sieht angelegt aus, ohne dass sich ein Sinn erschließen würde. Erst als mein Vater eine seiner alten Karten herauskramt, wird uns klar, dass wir am Beginn der früheren Auffahrt stehen.

"Das Haus hatte fünf Eingänge, die im Sommer immer offenstanden": Stich des Gutes in Ostpreußen, Mehr als 300 Hektar gehörten zum Gut.„Das Haus hatte fünf Eingänge, die im Sommer immer offenstanden“: Stich des Gutes in Ostpreußen, Mehr als 300 Hektar gehörten zum Gut.Archiv Jochen Buchsteiner

Die Auffahrt in die Erinnerung

Die Auffahrt ist viel beschrieben worden. „Es war eine imposante Auffahrt mit großem Blumenrondell vor dem Eingang, das Haus selbst mit Efeu und Weinlaub bewachsen“, erinnerte sich eine der Cousinen meines Großvaters, die in den Dreißigerjahren ihre Sommer in Kukehnen verbrachte. Sie sprach von dem „parkartigen Garten, immer sehr gepflegt, mit alten Bäumen und bequemen Wegen“. Die Ansicht ist auf einem Stich festgehalten, der mich seit Kindertagen begleitet. Er hing im Esszimmer meiner Großmutter, eine Kopie schmückt das Arbeitszimmer meines Vaters, der in Kukehnen geboren wurde.

Das Haus hatte fünf Eingänge, die im Sommer immer offenstanden, und zählte neun Wohn- und Arbeitsräume. Der Architekturhistoriker Wulf D. Wagner, der Fotos und Grundrisse vieler ostpreußischer Gutshäuser ausgewertet hat, erwähnte, dass in Kukehnen auch ein „Damenzimmer“ dazugehörte. Im Zentrum lag der Saal, in den für Taufen, Hochzeiten und Trauerfeiern ein Altar geschoben wurde. Bis zu 40 Personen sollten an dem langen Eichentisch Platz gefunden haben. Der Küchentrakt bestand aus sechs Räumen.

Die Geschichte Kukehnens geht ins 18. Jahrhundert zurück und war lange mit dem Namen von Tettau verbunden. In den Besitz unserer Familie kam es erst spät. Mein Urgroßvater kaufte es als „Rittergut Adlig Kukehnen“ im Jahr 1929, nachdem er wegen einer unvorsichtigen Bürgschaft in Finanznöte geraten war und das angestammte Familiengut Grudshöfchen veräußern musste. Die Familie kam eigentlich aus dem Salzburgischen Land. Aus einem Dokument von 1756 geht hervor, dass Anfang der Dreißigerjahre des 18. Jahrhunderts acht Buchsteiners und fünf „Buchsteinerinnen“ nach Ostpreußen eingewandert waren. Danach hatte sich die Familie verzweigt und verschiedene Güter im weiteren Einzugsbereich Königsbergs bewirtschaftet.

Auf der Suche nach der Vergangenheit werden mehrere Grenzen überschritten

In den Dreißigern des 20. Jahrhunderts umfasste Kukehnen, mit dem Vorwerk Bammeln, zwischen 313 und 465 Hektar. Selbst für ostpreußische Verhältnisse gehörte Kukehnen zu den größeren Landbesitzen. Im heutigen Deutschland liegt die Größe eines durchschnittlichen Landwirtschaftsbetriebs bei 63 Hektar; mit mehr als 100 Hektar wird er schon als „Großbetrieb“ registriert.

Wir besprechen, wie es weitergehen soll. Anton sagt, dass wir drei den weiten Weg aus Bonn, Berlin und London nicht zum zweiten Mal angetreten hätten, um uns so kurz vor dem Ziel von einem Tor und einem Schild abhalten zu lassen. Oleg wird unruhig und versucht, die weitere Dynamik der Unterredung abzuschätzen. Wir haben in den vergangenen Tagen schon manche Grenze überschritten. In Olegs Gesicht spiegelt sich die Frage wider, zu was diese merkwürdigen Deutschen noch alles fähig sein könnten.

Er geht zurück zum Auto und wartet. Als sich mein Vater anschickt, Oleg zu folgen, springt Anton beherzt über den Zaun neben dem Eisentor und geht schnellen Schrittes in das verbotene Gelände hinein. Oleg hebt die Arme und lässt sie wieder sinken. Es gibt weit und breit keinen Zeugen, auch eine Kamera ist nicht zu sehen. Wir sind einfach nur ein paar Männer sehr unterschiedlichen Alters im Nichts einer einsamen Landschaft. Warum sollte dieses unwirkliche Tor nicht überwunden werden? Ich fasse mir ein Herz und klettere ebenfalls über den Zaun.

Der letzte Winter von Kukehnen

Viel ist nicht mehr zu sehen auf dem Gelände, das einmal ein florierendes Gutsdorf war. Am 27. Januar 1945, mehr als drei Monate vor Kriegsende, ging Kukehnen unter. Am Abend zuvor hatte mein Urgroßvater die Flucht vor der Roten Armee abgebrochen und war mit den Arbeiterfamilien nach Kukehnen zurückgekehrt; die Wehrmacht hatte die Brücke über die Alle gesprengt und so den Weg abgeschnitten. Lotte, die Tochter des Gutskämmerers, berichtete später, was danach geschah.

Am Morgen des 27. Januar fuhren drei Russen mit einem Jeep vor und tauchten zunächst in der Wohnung des Kämmerers auf. Sie taten der Familie nichts an, sondern gingen sofort zum Gutshaus weiter. „Dort fanden sie den Gutsbesitzer Buchsteiner, angezogen mit einem Pelzmantel, in einem Sessel“, schrieb Lotte. „Sie haben ihn gleich erschossen. Als Tochter Doris ihrem Vater helfen wollte, wurde auch sie mit mehreren Schüssen getötet. Danach sind die drei Russen wieder verschwunden.“

Als die Arbeiter den Gutsherrn bestatten wollten, rückte eine russische Einheit an. „Das Gutshaus wurde angesteckt und ist vollständig ausgebrannt“, berichtete Lotte, die dann mit anderen Arbeitern und Kindern noch mehr als ein Jahr nach dem Tod des Gutsherrn im Restdorf lebte. Im Frühjahr 1946 wurde sie von den Russen in ein Lager bei Insterburg überstellt. Von dort gingen die Züge in die russischen Arbeitslager. Mindestens drei Kukehner Arbeiter wurden nach Sibirien deportiert, unter ihnen Kutscher Großmann, der dort auch gestorben sein soll. Vor seiner Deportation war Großmann noch eine elende Aufgabe übertragen worden. Er musste auf den Feldern rund um Kukehnen „alle russischen Gefallenen aufsammeln und mit Pferd und Ackerwagen nach Karschau bringen“, wie Lotte berichtete. Dort seien die Gefallenen auf einem frisch angelegten Friedhof begraben worden; später entstand dort ein Denkmal. Lakonisch fügte Lotte an: „Die deutschen Gefallenen wurden nicht beerdigt und verwesten im Gelände.“

Am Ende des Weges, hinter den Scheunen, öffnet sich in einem Waldstück eine tiefe Grube. Ganz unten, am Boden, steht Anton und scheint in eine Suche vertieft. Ich klettere den steilen Abhang hinunter. Als ich den Boden erreiche, staune ich: Er ist übersät von Scherben aus Porzellan, Glas und alten Steinkacheln.

Die Grube der Scherben

„Hier hat das Gutshaus gestanden“, sagt Anton. Wir scharren mit unseren Füßen in dem riesigen Mosaikhaufen. Alles andere muss verbrannt oder irgendwann weggeräumt worden sein. Wir sehen keine Möbelteile mehr, keine Geräte, keine Textilien, keine Holzbohlen. Nur unverkohlte Scherben und Kachelreste, die hier unberührt seit mehr als sieben Jahrzehnten liegen. Ich hebe eine halb zerbrochene Kachel mit einem geometrischen Relief auf und stelle mir vor, dass der Letzte, der einen Fuß auf sie gesetzt hat, mein Urgroßvater in seinem Pelzmantel gewesen sein könnte. Anton sammelt Porzellanscherben zusammen, an denen noch der Goldrand und florale Motive zu erkennen sind. Langsam verlieren wir uns in der zerborstenen Vergangenheit, jeder geht seinen Gedanken nach, bis uns die Mücken daran erinnern, dass die Sonne untergeht.

Schweigend und sonderbar ergriffen von diesem historischen Müllhaufen laufen wir zurück zum Tor. Es ist das erste Mal, dass ich die Vergangenheit meiner Familie angefasst habe. Ich hatte viel von Kukehnen gehört, ich hatte Fotos gesehen, ich bildete mir ein, die Atmosphäre zu kennen. Aber wie merkwürdig berührend ist es, plötzlich Material in den Händen zu halten, das in Gebrauch gewesen ist. Und es war ja nicht einfach nur in Gebrauch gewesen – es war gewissermaßen gerade in Gebrauch gewesen. All die Jahrzehnte, die es auf dem Boden der Erdgrube gelegen hatte, hatte es auf uns gewartet. In der langen Zwischenzeit war es durch niemandes Hände gegangen; die Letzten, die es angefasst, geputzt, abgetrocknet hatten, waren meine Vorfahren gewesen. Ein privates, völlig unerwartetes Pompeji!

Mein Vater steht auf der anderen Seite des Tores und erwartet uns mit schwer fassbarer Miene. Anton greift in seine Tasche und reicht ihm durch die Gitterstäbe wortlos eine Porzellanscherbe. Mein Vater blickt sie eine Weile an, dann stammelt er: „Das gibt es nicht.“ Und nach einem längeren Moment: „Ich erkenne das Service wieder!“ Um Fassung ringend nimmt er die Scherbe an, dreht uns den Rücken zu und geht sehr langsam in Richtung Auto. Dabei hält er die Scherbe aus seinem Geburtshaus vor sich, als transportiere er eine zerbrechliche Kostbarkeit. Wir klettern über den Zaun zurück, und noch bevor wir am Auto sind, lässt Oleg so ungeduldig wie erleichtert den Motor an.

Zum Buch

Der Text ist ein Auszug aus Jochen Buchsteiners Buch „Wir Ostpreußen: Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte“ (dtv, 288 Seiten, 26 Euro), das in diesen Tagen erscheint.