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Innenminister Roman Poseck (2. v. l.) und Bernd Fabritius (2. v. r.), Beauftragter der Bundesregierung, informieren sich im Gespräch mit Jürgen Scheuermann (M.), Johann Thießen (l.) und Kreisdezernent Frank Ide (r.) über das Projekt in Lich. © Constantin Hoppe
Rund 4000 Spätaussiedler kommen pro Jahr aus Russland und anderen Staaten der früheren Sowjetunion nach Deutschland. In einem bundesweiten Pilotprojekt finden sie nun eine erste gemeinsame Unterkunft in Lich. Welche Auswirkungen hat der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine auf die Einwanderung von Spätaussiedlern?
Es ist ein Thema, bei dem viele eher an die 1990er Jahre denken müssen – die Spätaussiedler, die aus Russland wieder zurück nach Deutschland kommen. Doch obwohl die 90er Jahre tatsächlich einen Höhepunkt der Rückkehr von Spätaussiedlern darstellten, hat die Zuwanderung aus den früheren Staaten der Sowjetunion nie aufgehört.
»Etwa 4000 Menschen sind es, die derzeit im Jahr kommen«, erklärte Prof. Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, vor wenigen Tagen bei einem Besuch in Lich. Gemeinsam mit dem hessischen Innenminister Roman Poseck besuchte er die neue Flüchtlingsunterkunft in Lich, in der ein bundesweites Pilotprojekt gestartet ist. In Lich sollen zukünftig Spätaussiedler gemeinsam untergebracht werden. Platz ist dort für bis zu 50 Personen. Aktuell sind es 29 – zumeist Familien.
In Zusammenarbeit mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und dem Landkreis Gießen habe das Innenministerium dieses Projekt zur gemeinsamen Unterbringung von Spätaussiedlern »zur Optimierung zielgerichteter Integrationsmaßnahmen« ins Leben gerufen, sagte Poseck.
Das »Leuchtturmprojekt« in Lich strahle weit über Hessen hinaus, erklärte Kreisdezernent Frank Ide. »Das ist unglaublich«, sagte er. »Es wird sogar Werbung in Usbekistan und Sibirien gemacht, damit Menschen hierher nach Lich kommen.«
Bei den Spätaussiedlern handelt es sich um die Nachkommen jener Deutschen, die einst ins Zarenreich auswanderten und deren Familien nach dem sogenannten Stalin-Erlass von 1941 nach Sibirien und in andere abgelegene Regionen der Sowjetunion deportiert wurden.
Etwa eine Million Menschen mit deutschen Vorfahren leben noch in Russland, Kasachstan und weiteren Staaten der früheren Sowjetunion. Die Gründe dafür, dass auch heute noch Menschen als Spätaussiedler nach Deutschland kommen, sind vielfältig. Besonders oft spiele Vereinsamung eine Rolle, erklärt Fabritius. »Es gibt Dörfer, in denen vor 30 Jahren die Hälfte der Bevölkerung deutschstämmig war, heute sind es vielleicht noch zwei Familien.«
Hinzu komme, dass sich seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs eine anti-deutsche Stimmung in Russland ausbreite. Wegen der Waffenlieferungen an die Ukraine gelte Deutschland an vielen Orten als Feind, sagt Fabritius: »Darunter leiden vor allem die Älteren, die noch einen leichten deutschen Akzent haben und auf der Straße auffallen.«
Rund 7000 Menschen kamen bis 2022 jährlich als Spätaussiedler nach Deutschland. 300 bis 500 von ihnen wurden nach Hessen zugewiesen und auf verschiedene Flüchtlingsunterkünfte verteilt. Zumindest bis zum Ukraine-Krieg, mit dem auch die Zahl der Spätaussiedler auf die heutigen 4000 schrumpfte.
Zu den Aussiedlern gehört auch Jürgen Scheuermann. Vor einem Monat kam er aus Sibirien, aus der Region um Nowosibirsk nach Lich. Deutsch spricht er passabel – bereits in Russland erwarb er ein B1-Sprachzertifikat. Das ist eine Grundlage für die Anerkennung als Spätaussiedler. Gemeinsam mit seiner Frau fasste er den Entschluss, in die Heimat seiner Vorfahren zurückzukehren. Wie viele andere Aussiedler auch hat er Verwandte, die bereits in Deutschland leben. Sein 27 Jahre alter Sohn lebt derzeit noch in Russland, will aber ebenfalls nach Deutschland ausreisen.
Das ist wohlgemerkt längst nicht allen so ohne Weiteres möglich, wie Fabritius berichtet. Denn infolge des Ukraine-Krieges werden derzeit viele junge Männer in das russische Militär eingezogen. »Wer noch keine solche Aufforderung bekommen hat, traut sich oft nicht, zu den Behörden zu gehen – aus Angst, zum Kriegsdienst eingezogen zu werden.«
Scheuermanns Sohn muss das jedoch nicht fürchten – er sei kriegsuntauglich, berichtet der Vater.
In Unterkünften wie in Lich sollen Spätaussiedler in Zukunft gemeinsam untergebracht werden. Das soll große Vorteile mit sich bringen, etwa bei speziell entwickelten Angeboten und Kursen, und soll den Neuankommenden die Eingewöhnung erleichtern. Auch auf die Beratungs- und Begegnungsstätte in Gießen wird aufmerksam gemacht, wo Vorträge, Lesungen, Sprachkurse sowie Informationsveranstaltungen angeboten werden.
Der Aufenthalt in der Gemeinschaftsunterkunft dauert in den meisten Fällen nur drei bis sechs Monate, bevor die Spätaussiedler eine eigene Unterkunft finden – in der Regel in der Nähe ihrer Verwandten in Deutschland.
Neben Poseck und Fabritius informierten sich vergangene Woche in Lich auch der Landesbeauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, Andreas Hofmeister, und der Bundes- und Landesvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Johann Thießen, über den Projektstand.
Für die Umsetzung suchte das Innenministerium einen Kooperationspartner – diesen fand man im Landkreis, wie Kreisdezernent Frank Ide berichtet. »Hier hatten wir gerade erst eine Flüchtlingsunterkunft fertiggestellt, doch nicht genügend ankommende Flüchtlinge, um diese auch zu besetzen.« Gemeinsam mit der zentralen Lage in Hessen seien das gewissermaßen die perfekten Voraussetzungen für das Projekt gewesen.