Interview | Rechtsextreme Jugendgruppen
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„Viele Eltern merken zuerst: Mein Kind hat einen neuen Freundeskreis“
Bild: imago-images/Jeremy Knowles
In Berlin haben sich zahlreiche Jugendliche rechtsextremen Gruppen angeschlossen. Die Beratungsstelle Crossroads spricht mit ihnen – über abwertende Menschenbilder und den Weg raus aus Gruppen wie „Deutsche Jugend Voran“ oder „Jung und stark“.
Sie hetzen gegen queere Menschen und Andersdenkende – und treten inzwischen immer offener auf. Rechtsextremistische Gruppen wie „Deutsche Jugend Voran“ oder „Jung und stark“ rekrutieren junge Menschen über Tiktok und Instagram, verabreden sich in Berlin und Brandenburg zu Störaktionen auf der Straße.
Die Beratungsstelle Crossroads begleitet Jugendliche und Eltern, die mit rechtsextremer Radikalisierung konfrontiert sind. Eine ihrer Beraterinnen erklärt im Interview, warum sich junge Berliner:innen der extremen Rechten zuwenden – und was diese neuen Gruppen so gefährlich macht.
Beratungsstelle Crossroads
Die Beratungsstelle Crossroads ist ein Projekt von „Violence Prevention Network“ (VPN), einer NGO, die seit über zwei Jahrzehnten in der Extremismusprävention sowie der Deradikalisierung und Distanzierungsbegleitung tätig ist.
Der Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit bereits radikalisierten Personen oder solchen, die ideologisch motivierte Straftaten begangen haben. Crossroads bietet in Berlin professionelle Beratung und Begleitung für Jugendliche, Angehörige und Fachkräfte, die sich mit Rechtsextremismus oder Radikalisierung konfrontiert sehen. Ziel ist es, gemeinsam Wege aus der Szene zu finden und Perspektiven jenseits extremistischer Ideologien zu entwickeln – etwa durch Gespräche, Trainings oder Unterstützung im Strafvollzug.
rbb|24: Frau Becker*, Sie versuchen durch Gesprächsangebote junge Menschen in Berlin aus der rechtsextremen Szene herauszulösen. Was unterscheidet neue Gruppen wie „Deutsche Jugend Voran“ von klassischen rechtsextremen Strukturen?
Uns fällt in der Beratung auf, dass die Personen sehr jung sind, manche sind erst 14 Jahre alt.
Gruppierungen wie „Deutsche Jugend Voran“ und „Jung und stark“ sind in Berlin vor ein bis zwei Jahren entstanden. Bisher scheinen sie sehr lose organisiert zu sein, weniger straff wie klassische Kaderparteien, wie „Der III. Weg“ oder „Die Heimat“. Auch das scheint sie für manche Jugendliche attraktiv zu machen. Diese Gruppen sind außerdem klar aktionsorientiert – sie treten auf Veranstaltungen auf, provozieren, machen Stress und tragen ihre Zugehörigkeit teilweise sehr offen nach außen, manchmal risikofreudig, fast naiv.
Es ist eine Generation, die in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Krisen aufgewachsen ist – Pandemie, Kriege, soziale Umbrüche. Gleichzeitig entwickelt sich ihr politisches Bewusstsein derzeit in einer Gesellschaft, in der rechtsextreme Diskurse immer präsenter werden, insbesondere in den sozialen Medien. Dort agieren rechtsextreme Akteure sehr zielgerichtet und geschickt.
In Berlin sind diese Gruppen zuletzt immer wieder in Erscheinung getreten – durch rassistische und queer-feindliche Aktionen und militantes Auftreten. Wie finden Betroffene zur Beratungsstelle Crossroads?
Häufig beginnt es damit, dass Eltern feststellen: Mein Kind hat plötzlich einen neuen Freundeskreis. Vor allem in den vergangenen Monaten haben sich viele Eltern bei uns gemeldet, die verzweifelt beobachten, wie ihr Kind sich einer rechtsextremen Gruppe anschließt. Dabei handelte es sich meistens um „Deutsche Jugend Voran“ oder „Jung und stark“. In Familien führt das oft zu Konflikten. Jugendliche schließen sich Neonazi-Gruppen an, die Eltern auch zurecht als gefährlich empfinden – auch für die Zukunft ihres Kindes.
Viele Eltern oder auch Geschwister, die befürchten, dass jemand aus ihrer Familie sich der Berliner Neonazi-Szene zuwendet, verstehen sich selbst als demokratisch, menschenrechtsorientiert oder sogar links. Ausgerechnet dort finden Jugendliche manchmal plötzlich Anschluss an diese rechtsextremen Gruppen.
Andererseits werden junge Menschen oft durch die Präventionsabteilung des Landeskriminalamtes an uns vermittelt. Die Polizei beobachtet die einschlägigen Gruppierungen und spricht Personen an, bei denen Sie die Sorge hat, dass die sich auf einem problematischen Weg befinden. Wir gehen auch in Berliner Gefängnisse zu denen, die straffällig geworden sind und bieten Gespräche an. Manchmal wenden sich auch Lehrkräfte, Sozialarbeiter oder Fußballtrainer an uns. Dass sich Jugendliche direkt bei uns melden, kommt auch vor, allerdings ist das eher selten.
Die Jugendgruppen scheinen in Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf besonders präsent zu sein. Was halten Sie von der Annahme, dass es sich um die Kinder von Neonazis handelt, die in den Neunzigern schon in Berlin unterwegs waren?
Das halte ich für eine gewagte These. Wir wissen zwar, dass es solche Beispiele gibt, ich würde daraus aber keinen allgemeinen Trend ableiten. Generell ist es so, dass wir durch die Beratung nur einen Ausschnitt des rechtsextremen Geschehens in Berlin kennen. Dort zeigt sich zumindest, dass Radikalisierung alle möglichen Familien betrifft.
Man muss allerdings sagen, dass Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf zu den Bezirken gehören, die in unserer Arbeit relativ oft auftauchen. Dort scheint es Bewegungen zu geben, die gezielt auf Jugendliche zugehen. Allerdings spielt sich Radikalisierung auch in anderen Bezirken ab, in Tempelhof-Schöneberg, in Spandau oder in Mitte.
Gibt es konkrete Auslöser dafür, dass Teenager in die Berliner Neonazi-Szene abdriften?
In vielen Fällen steht am Anfang eine Krise, eine Phase der Orientierungslosigkeit, fehlender Anschluss an Gruppen Gleichaltriger. Eltern erzählen dann, dass ihr Kind auf der Suche war, sich allein gefühlt hat.
In vielen Bereichen erleben Teenager sehr enge Vorgaben, durch Schule, Eltern, gesellschaftliche Normen. Zugleich entsteht in diesem Alter ein Streben nach Autonomie. Viele Jugendliche fühlen sich in dieser Zeit verunsichert – und plötzlich sind da neue Freunde und Gruppierungen, die Zugehörigkeit und Anerkennung versprechen.
Manchmal können die Auslöser auch Konflikte innerhalb der Familie sein, Leistungsdruck, das Ringen mit Schönheitsidealen, Geschlechterrollen oder der Frage: Wie will ich leben? Gerade in solchen Momenten sind Angebote von extremistischen Gruppen, die einfache Antworten und klare Zugehörigkeit versprechen, besonders verlockend.
Dann lässt sich beobachten, dass junge Menschen oft über Tiktok zum ersten Mal mit rechtsextremen Inhalten in Berührung kommen – über Videos, Memes, Musik. Von dort aus führt der Weg oft weiter in Chatgruppen mit anderen Jugendlichen aus dem eigenen Bezirk.
Beraterin bei Crossroads
Sind diese jungen Rechtsextremen überhaupt gesprächsbereit?
Meistens ja, weil wir erst einmal versuchen zu verstehen, wie es den Jugendlichen geht. Ausgangspunkt sind meistens Konflikte, die sich in der Familie oder im sozialen Umfeld abspielen. Zum Beispiel wenn Eltern bestimmte Regeln aufstellen oder moralische Forderungen stellen, die ihr Kind ablehnt oder ignoriert.
Für uns ist es wichtig, beide Seiten ernst zu nehmen. Die Eltern haben Ängste und wollen ihr Kind schützen. Die Jugendlichen hingegen fühlen sich oft missverstanden, erleben die elterlichen Grenzen als Bevormundung.
Wir gestalten das Gespräch transparent. Die Jugendlichen wissen meist, warum sie bei uns sind. Wir sprechen das offen an, fragen: Wie geht es dir damit, dass dich deine Eltern hergebracht haben? Was beschäftigt dich? Am Anfang sprechen wir nicht über Ideologie, sondern über Persönliches. Wie wird die Welt wahrgenommen – als bedrohlich oder lebenswert? Wir schaffen einen Raum, in dem Zweifel Platz haben. Das ist oft der erste Schritt.
Wie gelingt es Ihnen konkret, Jugendliche mit rechtsextremen Freundeskreisen und rassistischen Weltanschauungen zum Nachdenken zu bewegen?
Wir arbeiten in der Beratung immer zu zweit im Tandem. Ein erstes Treffen dient dazu, Vertrauen aufzubauen und die Situation einzuschätzen. Der Beratungsprozess ist meistens längerfristig angelegt und umfasst idealerweise mindestens zehn Gespräche.
Viele Jugendliche sind tatsächlich motiviert, etwas in der Gesellschaft zu verändern. Sie sehen sich als Gerechtigkeitskämpfer oder Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen. Das nehmen wir ernst und befürworten das Ziel auch grundsätzlich.
Und dann schauen wir, wo es möglicherweise Probleme und Widersprüche gibt – zum Beispiel zwischen dem Wunsch, die Welt zu verbessern und einer rechtsextremen Ideologie, die auf Abwertung von Menschen aufbaut und Gewalt als legitimes Mittel ansieht. Wie wirkt sich die Gruppenzugehörigkeit dort aus? Was macht ihnen Freude, und wo haben sie Schwierigkeiten?
Von welchen Erfahrungen berichten Ihnen Jugendliche in solchen Gruppen?
In diesen Gruppen kommt es zu vielen Konflikten – einmal mit Außenstehenden, mit Polizei, Lehrern, Demonstranten beziehungsweise Gegendemonstranten. Solche Erlebnisse wirken belastend, stiften in der Gruppe aber oft auch Zusammenhalt.
Gleichzeitig herrschen gerade in rechtsextremen Jugendgruppen intern oft starke Hierarchien, Machtstrukturen und Regeln. Mobbing oder Sexismus sind keine Seltenheit. Gerade für junge Frauen ist das ein häufiger Grund, sich wieder zu distanzieren. Aber auch für männliche Jugendliche erfüllt sich deshalb nicht immer der Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung.
In einigen Fällen geben rechtsextreme Gruppierungen allerdings erstmal Halt: Mitglieder fühlen sich zugehörig, erleben Gemeinschaft, nehmen aktiv an Aktionen teil, auch wenn diese oft mit Alkoholkonsum einhergehen und strafbar sind. Diese Mischung aus Anziehung und Ambivalenz ist typisch. Und für uns ist dieses Spannungsfeld ein möglicher Ansatz, um abwertende Menschenbilder zu hinterfragen.
Aber manche sind in ihrer Szene vollkommen gefestigt. Was dann?
Ja, das ist eine große Herausforderung. Wenn jemand keinerlei Zweifel hat und sich in seiner Rolle wohlfühlt, erreichen wir diese Person in der Regel nicht. Es braucht immer einen inneren Leidensdruck – etwas, das motiviert, sich überhaupt auf einen Beratungsprozess einzulassen. Dieser Druck kann ganz unterschiedlich aussehen: Konflikte zu Hause, Schwierigkeiten in der Schule, das Gefühl, auf der Stelle zu treten.
In den Strafvollzugsanstalten können sich zum Beispiel Chancen für eine Neuorientierung ergeben, weil diese neue Einengung, die Vorgaben als persönliche Krise erlebt werden. In dieser Phase sind manche Personen bereit, mit uns zu sprechen, auch wenn Sie bereits straffällig geworden sind. Manche sagen dann, dass sie sich von den rechtsextremen Gruppen distanzieren wollen, manche behalten aber dabei trotzdem noch Teile ihrer rechten Weltbilder. Das werten wir als einen Teilerfolg, auch wenn man sich aus demokratischer Sicht noch mehr wünschen würde.
Einen schnellen Ausweg gibt es in der Regel nicht. Es ist ein Prozess, der Zeit braucht – und den die Jugendlichen selbst mitgehen müssen.
Das Interview führte Roberto Jurkschat.
*Die Interviewte möchte aus Sicherheitsgründen nicht mit Namen genannt werden. Ihre Identität ist der Redaktion bekannt.