Unmittelbar nach dem russischen Großangriff stellte die Ukraine einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU. Üblicherweise folgt darauf ein zäher, langwieriger Prozess, doch bereits im Dezember 2023 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Der Weg Kiews in die Strukturen der EU ist jedoch trotz der rekordverdächtig schnellen Verhandlungen ein beschwerlicher.

So gibt es viele Baustellen bei der Reform des Justizwesens, der Begrenzung des Einflusses von Oligarchen oder der Bekämpfung der Geldwäsche. Welche Hürden weiterhin vor der Ukraine liegen, darüber sprach das „Luxemburger Wort“ mit drei ukrainischen Rechtsexpertinnen. Tetyana Komarova, Olesia Tragniuk und Oksana Senatorova von der Universität Charkiw waren Referentinnen bei einer Konferenz über die Zukunft der Ukraine, zu der die Universität Luxemburg eingeladen hatte.

Sie lehren an der Universität Charkiw, die sich nur knapp 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt befindet. Wie funktioniert eigentlich akademischer Alltag unter den gegenwärtigen Bedingungen in der Ukraine?

Tetyana Komarova: Ich kann mich gut an die ersten Tage der großangelegten russischen Invasion erinnern. Damals verbrachten wir viel Zeit in Schutzräumen. Was uns geholfen hat, war die Arbeit. Eine Freundin befand sich im Examen, ich musste Anträge stellen. Nach nur einem Monat wurden die Vorlesungen und Seminare wieder aufgenommen, in der Regel via Zoom. Nur 15 Prozent der Studenten sind in Charkiw, der Rest über die ganze Ukraine und auch Europa verteilt.

Auf Einladung des Luxemburger Juraprofessors Stefan Braum nahmen die ukrainischen Wissenschaftlerinnen Tetyana Komarova (rechts), Olesia Tragniuk (links) und Oksana Senatorova an einer Konferenz über die Zukunft der Ukraine in Luxemburg teil. Foto: Michael Merten

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Bereits Tage nach der Invasion, am 28. Februar 2022, bewarb sich die Ukraine offiziell als EU-Mitglied. Welche Schwierigkeiten gibt es auf diesem Weg hin zur EU?

Tetyana Komarova: Die EU-Kommission hat uns während dieses Prozesses sehr konkrete Richtlinien, Fragen und Aufgaben gegeben, auf die wir Antworten vorbereiten müssen. Wir machen das in einer sehr kurzen Zeitspanne, und das ist das Schwierigste, weil wir viele unerwartete Umstände haben. Wenn es etwa um die Reform des Justizwesens geht, muss man bedenken, dass viele Gerichtsgebäude zerstört sind, dass Richter vertrieben wurden, aber wir müssen nachweisen, dass die Justiz effektiv arbeitet. Unsere Beamten sollen ihre Aufgaben erledigen, aber während des Arbeitstages kann es mehrere Stunden lang Alarme oder Angriffe geben. Die gesetzten Fristen bewegen sich aber überhaupt nicht.

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Olesia Tragniuk: Man muss verstehen, dass die Ukraine schon vor der Verleihung des Kandidatenstatus eine Menge getan hatte, weil es bereits 2017 das Assoziierungsabkommen mit der EU gab. Es war eine der Anforderungen dieses Abkommens, unsere Gesetzgebung in Übereinstimmung mit der EU-Gesetzgebung zu bringen. Die Arbeit wurde also schon vorher gemacht, aber die groß angelegte Invasion beschleunigt diesen Prozess. Für die EU ist es sehr kompliziert, einem Staat, der sich im Krieg befindet, den Status eines Kandidaten zu gewähren. Aber ich denke, dass dies der natürliche Weg der Ukraine ist.

Die Ukraine muss viele Reformen durchführen. Gibt es denn Bereiche, wo sich bei den Beitrittsverhandlungen zeigt, dass die Ukraine der EU überlegen ist?

Olesia Tragniuk: Da ist zum Beispiel der Bereich der öffentlichen Rekrutierung. Das ist bei uns sehr offen und effektiv, die Gesetzgebung ist viel weiter als in den meisten europäischen Ländern und wir haben ein sehr schönes Beispiel dafür, dass etwas gut funktioniert und sich die EU-Vertreter das anschauen.

Tetyana Komarova: Die Balkanstaaten sind nicht sehr glücklich darüber, dass die Ukraine als Kandidat an Bord ist, weil sie sagen: Ihr solltet euch hinten anstellen, ihr seid die letzten, die sich beworben haben. Aber die Statistiken zeigen, dass wir erfolgreicher sind als sie.

Aber wenn man sich zum Beispiel das mazedonische Beispiel anschaut: Sie haben eine Menge getan. Sie haben sogar den Namen in Nordmazedonien geändert. Doch dann wurde der Beitritt gebremst, es gab eine Menge Frustration, die Regierung ist zusammengebrochen. Ist das nicht auch ein Risiko für die Ukraine?

Tetyana Komarova: Natürlich ist es ein Risiko, weil die Beitrittsverhandlungen kein juristischer Prozess sind. Es ist ein politischer Prozess. Und wir müssen auf alle Hindernisse vorbereitet sein, ja. Aber wie auch immer, das Hauptziel ist vielleicht nicht einmal die Mitgliedschaft, das Hauptziel ist der Prozess, demokratischer zu werden, der Kampf gegen die Korruption. Wir machen Fortschritte in diesem Prozess. Für uns ist jede Beziehung zur Europäischen Union ein Ausdruck unserer Entwicklung.

Zur Person

Tetyana Komarova ist Professorin an der Nationalen Juristischen Universität Jaroslaw Mudryi in Charkiw und leitet die dortige Abteilung für das Recht der Europäischen Union. Olesia Tragniuk ist außerordentliche Professorin am Charkiwer Lehrstuhl für das Recht der Europäischen Union, Oksana Senatorova außerordentliche Professorin am dortigen Lehrstuhl für Internationales Recht.

Welchen Herausforderungen ist Ihre Gesellschaft durch die Kriegssituation ausgesetzt?

Tetyana Komarova: Wir haben überhaupt keine Möglichkeit, unsere Zukunft zu planen. Ich bin mir zum Beispiel nicht sicher, ob ich morgen in der Lage sein werde, meine Aufgaben zu erfüllen. Ich versuche zu überleben, denn jeden Tag, wenn ich in Kiew oder Charkiw bin, werden mehrere Menschen durch Raketen getötet. Wir versuchen also zu planen, aber wir müssen flexibel sein.

Oksana Senatorova: Man darf nicht vergessen, der bewaffnete Konflikt startete schon im Februar 2014, als sogenannte grüne Männchen auf der Krim einmarschiert sind. Die zweite Phase war die Besetzung des Donbass und der Region Lugansk. Und die dritte Phase ist eigentlich die Invasion im großen Stil seit 2022. Seitdem ist die Zahl der Kriegsverbrechen beträchtlich gestiegen, wir finden auch Beispiele für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Olesia Tragniuk: Ein weiteres, sehr kompliziertes Problem, mit dem die Gesellschaft jetzt konfrontiert ist, ist, dass viele Leute, die sich der Zukunft nicht bewusst sind, wollen, dass die Regierung den Krieg auf irgendeine Weise beendet.

Man spricht von einem eingefrorenen Konflikt…

Olesia Tragniuk: Ja, ein eingefrorener Konflikt. Viele Menschen sind müde durch diesen Krieg, denn es ist nicht nur die Bedrohung unseres Lebens. Es sind auch die wirtschaftlichen Probleme. Wir haben die Arbeit verloren. Wir haben die Häuser verloren. Wir haben eine Menge verloren. Und deshalb beschweren sich viele Menschen, warum die Regierung nichts tut, um das zu verhindern. Aber wir sind jetzt unter keinen Umständen in einer günstigen Situation, weil die Russen jetzt einen Vorteil an der Front haben. Jeden Tag verlieren wir fünf bis zehn Kilometer des ukrainischen Territoriums.

Oksana Senatorova: Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem italienischen Professor, der mich 2022 fragte: Spielt es eine Rolle, wer das Territorium kontrolliert? Ich würde aufgeben. Die Menschen in Europa verstehen möglicherweise nicht, was es bedeutet, von der Russischen Föderation besetzt zu sein. Wir alle drei sind tatsächlich am Beginn der Invasion aus Charkiw geflohen. Nicht, weil wir Angst vor Beschuss oder Bombardierung hatten; unter diesen Umständen leben wir auch jetzt in der Ukraine. Aber wir hatten Angst davor, in besetzten Gebieten zu leben, weil wir bereits gesehen hatten, was russische Truppen während des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges getan haben. Butscha, Borodyanka, Mariupol sind Beispiele.

Oksana Senatorova: Meine Mutter lebt immer noch in Mariupol unter Besatzung. Ich möchte nicht, dass die Ukraine aufhört, für die Befreiung dieser Gebiete zu kämpfen. Denn die Menschen dort müssen kämpfen. Was meinen Sie, wer den ukrainischen Streitkräften hilft, Militärbasen auf der Krim oder diese Brücke anzugreifen? Die Ukrainer, die dort geblieben sind! Und das ist der Grund, warum wir weiter kämpfen: Weil wir die Ukrainer frei machen wollen, weil die Freiheit das Wertvollste für die Ukrainer ist. Es geht darum, die Menschen so leben zu lassen, wie sie es wollen. Wir sind stark. Wir werden das überwinden. Ich glaube daran. Ich glaube an das ukrainische Volk.