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Stand: 11.07.2025 06:03 Uhr

Bei einer Pro-Palästina-Kundgebung in Berlin wurde am 15. Mai ein Polizist schwer verletzt. Laut Polizei wurde er zu Boden gebracht und getreten. NDR und SZ liegt ein bisher unveröffentlichtes Video vor, das sich mit dieser Darstellung nicht deckt.

Von Sven Lohmann, Merlin Menze und Reiko Pinkert, NDR

„Polizisten liefern Schutz und geraten dabei oft selbst in Gefahr, ja in Lebensgefahr“, sagte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) vor zwei Monaten im Deutschen Bundestag. Um sodann von einem Vorfall auf einer Pro-Palästina-Kundgebung in Berlin zu sprechen, die einen Tag zuvor, am 15. Mai stattfand. Dort sei ein Polizist von Demonstranten „in die Menge gezogen und dabei schwer verletzt“ worden. So etwas passiere immer wieder, so Dobrindt. Statt Misstrauen forderte er Rückendeckung für die Polizei.

Doch was war am besagten 15. Mai passiert? In Berlin-Kreuzberg wollten Demonstrierende an den so genannten Nakba-Tag erinnern. Der Tag soll an die Flucht und Vertreibung vieler Palästinenser rund um die die israelische Staatsgründung und den Angriff arabischer Staaten auf das neu gegründete Israel im Jahr 1948. Zu der Kundgebung kamen rund 1.100 Menschen. Laut Polizei wurden an dem Tag mehr als 50 Personen festgenommen.

In der Polizeimeldung hieß es auch, dass Gewalttäter einen Polizeibeamten auf der Versammlung gezielt angegriffen, zu Boden gebracht und auf ihn eingetreten hätten. Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen, dies auch, weil die Generalstaatsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen übernahm. Laut einem Polizeisprecher erlitt der Beamte schwere Verletzungen. Er soll sich bei dem Einsatz die rechte Hand gebrochen sowie die Wirbelsäule geprellt haben.

Bislang lediglich Ausschnitte

Bisher waren vor allem Ausschnitte öffentlich, die das Geschehen rund um den Einsatz in sehr kurzen Videos oder aus ungünstigem Winkel zeigen. Eine neue Aufnahme, die zuerst dem gemeinnützigen Verein Forensis in Berlin zugespielt wurde, lässt allerdings Zweifel an der Darstellung der Berliner Polizei aufkommen. Sie zeigt den Einsatz aus der Vogelperspektive und ist nahezu lückenlos. NDR und Süddeutsche Zeitung hatten Zugriff auf die Roh-Aufnahme und konnten sie verifizieren.

Im neuen Video ist zu sehen, wie Polizisten durch die Menge  vordringen. Es scheint, als würden die Beamten gezielt eine Person festnehmen wollen. Unter den Polizisten ist auch der später verletzte Beamte mit der Rückennummer BE24111.

Ein Screenshot aus dem bearbeiteten Video von Forensis zeigt die Szene auf der Kundgebung am 15. Mai.

Aufgeladene Situation

Das Video zeigt, wie er offenbar versucht eine Person am Boden zu fixieren. Die Situation ist aufgeladen. Es wird geschrien und geschubst. Dann stolpert ein Demonstrant durch das Schubsen eines weiteren Polizisten auf den Beamten mit der Rückennummer BE24111. An keiner Stelle kann man sehen, dass der Polizist in die Menge gezogen oder auf dem Boden auf ihn eingetreten wurde.  

Der besagte Polizist steht auf und schlägt mehrfach und wuchtig auf verschiedene Demonstrierende ein. Kurz darauf begibt er sich zwischen seine Kollegen und hält den rechten Arm geschützt an den Körper. Danach nutzt er nur noch den linken Arm. Nach circa eineinhalb Minuten verlassen die Polizisten die Menge mit der festgenommenen Person. Auch der Beamte mit der Rückennummer BE24111 schiebt sich zurück in Richtung einer Absperrung. Dort wird er von Kollegen aufgenommen und gestützt, bevor er leicht zusammensackt.   

Ursprung der Verletzung unklar

Zu welchem Zeitpunkt und wie genau es zur Verletzung kam – und ob der Beamte verletzt wurde oder sich selbst verletzt hat – bleibt unklar. Die Szene ist phasenweise unübersichtlich. Doch sieht man auf der Aufnahme nicht, dass der Polizist von Teilnehmenden der Kundgebung gezielt angegriffen und zu Boden gebracht worden sei, wie es die Berliner Polizei mitteilte. 

Auf Nachfrage erklärt sie, man habe die Polizeimeldung nach dem Einsatz auf Grundlage des Berichts des Führungsstabs verfasst. Und es bleibe bei der Darstellung der Meldung: Gewalttäter „griffen gezielt einen Polizeibeamten an, brachten ihn zu Boden und traten massiv auf ihn ein.“ Die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft Berlin dauern an.

Damit konfrontiert, dass eine neue Aufnahme sich nicht mit der Darstellung der Polizei und des Innenministers deckt, verwies das Bundesinnenministerium lediglich auf die Polizeimeldung vom 16. Mai.

Beamte schon vorher zu sehen

Was ebenfalls auffällt: In einigen Videos ist der Beamte schon vorher zu sehen. Sie zeigen Szenen, wie er auf Demonstrierende einschlägt. Clemens Arzt war nach eigener Aussage bei der Versammlung vor Ort. Bis März 2023 war er Hochschullehrer für Polizei- und Versammlungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Auch er kennt die neue Aufnahme. Er könne nicht sehen, dass der Beamte mit der Rückennummer BE24111 von Demonstrierenden gezielt hineingezogen und zu Boden gebracht worden sei.  

Das Video wurde dem NDR und der Süddeutschen Zeitung von dem gemeinnützigen Verein Forensis zur Verfügung gestellt. Gegründet wurde der Verein von der Londoner Recherche-Agentur Forensic Architecture.