Delcy Morelos im Hamburger Bahnhof

Eine Umarmung von Mutter Erde

Sa 12.07.25 | 08:09 Uhr | Von Marie Kaiser

Eine Frau läuft am 08.07.2025 bei einer Vorbesichtigung an dem Kunstwerk von Delcy Morelos im Hamburger Bahnhof vorbei - im Vordergrund ist ein Kunstwerk von Joseph Beuys zu sehen (Quelle: imago images/Funke Foto Services)

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Audio: Radioeins | 09.07.2025 | Marie Kaiser | Bild: imago images/Funke Foto Services

Für manche ist Erde nur Dreck, für Delcy Morelos jedoch steckt sie voller Magie und Geheimnis. Mit ihrer riesigen Erdskulptur „Madre“ will die kolumbianische Künstlerin dem Berliner Publikum im Hamburger Bahnhof diese Wunder näherbringen. Von Marie Kaiser

Als erstes geht die Kunst von Delcy Morelos in die Nase. Wer die Kleihues-Halle des Hamburger Bahnhofs in Berlin betritt, dem schlägt ein überwältigender Duft entgegen: Erdig-feucht und kühl, aber gleichzeitig auch warm und fast schon weihnachtlich duftet ihre Erdskulptur „Madre“ (Mutter), nach Zimt und Nelken.

„Der Geruchssinn ist einer der am meisten unterschätzten Sinne, gerade in westlichen Kulturen und in den Städten“, sagt die kolumbianische Künstlerin im Interview mit rbb24. „Dabei ist der Geruchssinn überlebenswichtig. Im Dschungel geht es beim Riechen um Leben oder Tod, weil die Eingeborenen den Jaguar und die Anakonda riechen können und ein paar Sekunden mehr haben, um ihr Leben zu retten.“


Blut, Schweiß und Tränen

Doch auch für die Augen hat die Erdskulptur von Delcy Morelos einiges zu bieten. 20 Meter lang und 6 Meter hoch zieht sie sich durch den Raum und reicht damit fast bis zur Decke. Ein gewaltiger Berg aus Erde, der aber ganz geometrisch aufgebaut ist. Vorne fällt die Erdskulptur schräg ab wie ein Dach und erinnert an ein Haus aus Erde. Insgesamt zwei Monate hat ein ganzes Team an der Erdskulptur gearbeitet – und dabei „Blut, Schweiß, Tränen“ vergossen, wie Delcy Morelos vor der Eröffnung ihrer ersten Einzelausstellung in Deutschland sagt. Erst wurde ein Gerüst aufgebaut und zentnerweise Kompost aus Berlin-Lübars in den Hamburger Bahnhof gebracht. Dann schichtete die Künstlerin die Erde so auf, dass die Skulptur stabil bleibt und es später nicht zu Erdrutschen kommen kann.


Das Wunder des Lebens sichtbar machen

Erde hat für Delcy Morelos etwas Magisches, trägt ein Geheimnis in sich. In den indigenen Traditionen der Anden sei der Mensch lebendige Erde, erläutert die Künstlerin. „Für mich ist die Erde das Wunder, das es uns ermöglicht, lebendig zu sein, zu denken, zu lieben, zu lächeln. All diese Energie kommt aus der Erde. Meine Mission ist es, dieses Wunder des Lebens sichtbar zu machen.“

Gerade die Menschen, die in großen Städten leben, müssten an dieses Wunder wieder erinnert werden. Sie hätten sich von der Erde, die uns alle nährt, entfremdet. Davon ist Delcy Morelos überzeugt. Auf ihrer Erdskulptur „Madre“ hat sie nun Samen ausgestreut. Überall sprießen winzige Keimlinge. Es sind Chiasamen aus den Anden, also eine Pflanze aus Delcy Morelos‘ Heimat Kolumbien und Sprösslinge von Buchweizen, der in Deutschland heimisch ist.

Pflanzen wachsen auf der Installation "Madre" der Künstlerin Delcy Morelos im Hamburger Bahnhof (Quelle: imago images/Funke Foto Services)Auf der Installation „Madre“ wachsen Pflanzen


Erdtelefon und Erdumarmung

Im Hamburger Bahnhof ist die Skulptur „Madre“ im Dialog mit Arbeiten von Joseph Beuys zu sehen, die dauerhaft in der Kleihues-Halle gezeigt werden. Schon während ihres Kunststudiums fühlte sich Delcy Morelos mit dem deutschen Aktionskünstler und Bildhauer verbunden, wie sie sagt: Dieser verstand sich selbst auch als Schamane und für ihn steckten in Naturmaterialien wie Fett, Filz oder Honig etwas Magisches.

Im Jahr 1967 erschuf Beuys eines seiner sogenannten „Urobjekte“ aus Erde: Das „Erdtelefon“, für das er einen kleinen Erdklumpen durch ein Kabel mit einem Telefonapparat mit Wählscheibe verband. Eine Möglichkeit, direkt mit der Erde zu kommunizieren, sie anzurufen. Bei Delcy Morelos kann die Erde nun zwar nicht angerufen werden, dafür gibt es hier gleich drei Umarmungen.

Infos im Netz

www.smb.museum –
„Madre“

Delcy Morelos Ausstellung ist vom 11. Juli 2025 bis 25. Januar 2026 im Hamburger Bahnhof in der Invalidenstraßezu sehen. Geöffnet ist an allen Tagen außer montags.


Kunst, die erdet

„Berühre Madre nur mit deinem Blick und lass dich von ihr umarmen“, steht an der Wand. Anfassen ist also nicht erlaubt, aber die Besucherinnen und Besucher können in drei kleine überdachte Einbuchtungen in der Erdskulptur hineingehen und die Erde dort ganz aus der Nähe mit allen Wurzeln, Partikeln und Körnchen, aus denen sie besteht, betrachten und riechen. Wie eine Umarmung von Mutter Erde soll sich das anfühlen, sagt die Künstlerin Delcy Morelos. Und wirklich – „Madre“ entfaltet eine tiefe beruhigende Wirkung. Wenn die Skulptur mit allen Sinnen wahrgenommen wird, stellt sich ein Gefühl der Erdung ein.

Als die Kuratorin der Ausstellung Catherine Nichols die Erdarbeiten von Delcy Morelos vor drei Jahren bei der Biennale in Venedig entdeckte, habe sie immer wieder zu der Erdskulptur zurückkehren müssen, erzählt sie. Sie sei nun gespannt, ob es den Menschen im Hamburger Bahnhof auch so ergehen werden. Ob auch sie zurückkehren werden, um sich noch eine Umarmung von Mutter Erde abzuholen.

Sendung: Radioeins, 09.07.2025, 09:40 Uhr