Auf Anhieb könnte man denken, der Titel habe vielleicht etwas mit Bob Dylans „Rolling Thunder“-Revue zu tun: „Vom Norden rollt ein Donner“. Aber es muss ja nicht alles etwas mit Bob Dylan zu tun haben. In diesem Fall, also in dem des so benannten Romans von Markus Thielemann, der 2024 bei C. H. Beck erschien, ist der Donner doppelt codiert. Zum einen rollt er als natürlicher Gewitterdonner über die Lüneburger Heide, zum anderen als Geschützdonner: „Direkt hinter dem Rand des Forstes beginnt das Gelände des Truppenübungsplatzes Munster-Süd. Gerade ist es still, doch auch hier dröhnt an vielen Stunden des Tages der Lärm der Kriegsübungen.“
Markus Thielemann hat einen modernen Heideroman geschrieben, der die Veränderungen dieser Gegend vom Heimatidyll zur Wiege völkischer Blut-und-Boden-Ideologie, dann zur Besatzungszone, zum Naturschutzgebiet, zum Ziel des Massentourismus und schließlich zum Wolfsrevier erzählerisch aufarbeitet – viel Stoff für ein Buch. Die dichterische Referenzgröße darin ist ein Folksänger der besonderen Art: nämlich Hermann Löns. Er spukt noch in manchen Köpfen herum, und auch er mit ganz unterschiedlicher Codierung: Für die einen ist er ein harmloser Heidedichter, der sogar verehrt wird und dessen Lieder man noch heute auf den Lippen hat, für die anderen ein Antisemit und voll glühendem Fremdenhass, der von „urdeutschen Heidebauern“ schrieb, „die ausländisches Gesindel abschlachten“.
Die Verwandlung der Landschaft
Die historischen Spannungen treten ebenso wie die gegenwärtigen – soll man Wölfe schützen oder besser abschießen? – immer wieder in Gegensatz zu der idyllischen Landschaft. Verdoppelt wird dieser Effekt nun bei einer Lesung der besonderen Art: In der Julinachmittagshitze sitzt der 1992 geborene Markus Thielemann unter einem riesigen Baum mit schattenspendendem Blattwerk, davon fast versteckt, an einem kleinen Tisch der „Bacherlebnisstation“ des Naturschutzbundes im baden-württembergischen Ladenburg. Die nahe Mannheim und Heidelberg gelegene Stadt hat seit einigen Jahren Anfang Juli eigene Literaturtage, die unter dem programmatischen Titel „Vielerorts“ mit außergewöhnlich schönen Leseorten und gedankenvollen thematischen Kombinationen aufwarten – sei es in alten Fachwerkhäusern oder Scheuern, an der Stadtmauer unter freiem Himmel, auf einer Neckarfähre (!) oder eben hier außerhalb des Stadtkerns mitten in den gelben Feldern an dem kleinen Bach.
Die Zuhörer Markus Thielemanns und der Moderatorin Katrin D’Inka sitzen mit Sonnenhüten auf Holzbänken oder suchen Schatten unterm Nachbarbaum, sehr viele sind mit dem Fahrrad gekommen, manche haben ob der Hitze die nackten Füße im Gras. Etwas weiter ist ein Hof mit Kühen, und wenn der Autor jetzt hier von der Lüneburger Heide liest und spricht, verwandelt sie sich in die Ladenburger Heide. Kutschfahrten? Landhotels? Werden von Norden nach Süden gebeamt und mir nichts, dir nichts in die gegenwärtige Wahrnehmung integriert. Heidschnucken? Verpflanzt man in der Phantasie auch schnell an die Bergstraße. Lustig wird’s, als Thielemann die Romanstelle vorliest, an der Heidebewohner über ihr Verhältnis zu Touristen sprechen: „Unsere Ernte sind die reichen Knacker aus der Stadt“, und: „Abgerechnet wird hier am Ende doch in Kaffeefahrten“.
Die Heideschönheit wird an diesem Nachmittag verdoppelt im sympathetischen Rezeptionsvorgang – und doppelt hart ist dann auch der Effekt, als Thielemann auf das brisanteste Thema seines Romans zu sprechen kommt, nämlich die Verdrängung. Geht es doch in diesem Roman auch um das KZ-Außenlager Tannenberg bei Unterlüß, „in dem Edith Balas und viele andere Frauen unter menschenunwürdigsten Bedingungen gefangen gehalten wurden, um Zwangsarbeit für die Rheinmetall-Borsig AG zu verrichten“, und das vielleicht bis heute „nur ein namenloses Flurstück zwischen Heide und Forst“ wäre ohne die Recherchen des ehrenamtlichen Heimatforscher Hendrik Altmann, dem Thielemann im Nachwort seines Buches dankt. Ständig, sagt der Autor nun im Gespräch, werde in der Heide an Hermann Löns erinnert, dem die Nationalsozialisten ein nachträgliches Staatsbegräbnis bereiteten, aber bis vor Kurzem habe es kein einziges Schild gegeben, das an das besagte Außenlager erinnere. Der Donner bleibt an diesem Nachmittag aus, aber der Kontrasteffekt stellt sich in der lieblichen Umgebung umso deutlicher ein.