„Die Lauchhammer Files“ am TD Berlin

Mit Tanzmusik den Sozialismus retten

Sa 12.07.25 | 12:17 Uhr | Von Barbara Behrendt

DIE LAUCHHAMMER FILES von LUNATIKS und Lothar Berndorff (Quelle: Dunja Berndorff)

Dunja Berndorff

Audio: rbb24 Inforadio | 12.07.2025 | Barbara Behrendt | Bild: Dunja Berndorff

Die „1. Tanzmusik-Konferenz Lauchhammer“ wollte 1959 die Weichen für Unterhaltungsmusik im Geiste des Sozialismus stellen. Die Recherchetheater-Gruppe Lunatiks lässt die Konferenz-Akten in einer erhellenden politischen Musikrevue reenacten. Von Barbara Behrendt

Der Tanzlehrer und die Musikproduzentin drehen sich an diesem Premierenabend im TD Berlin etwas unsicher auf der Tanzfläche, als sie ihren ersten „Lipsi“ probieren. Auch wenn der Tanzlehrer das Gegenteil demonstrieren möchte: wie eingängig dieser „Lipsi“ ist, diese neue Tanzmusik, die 1959 erfunden wird, um den DDR-Bürger:innen ein deutsches, sozialistisches Gegenstück zum amerikanischen Rock’n’Roll zu präsentieren.

Vorgestellt wird er auf der „1. Tanzmusik-Konferenz“ in der damaligen Industriemetropole Lauchhammer in der Lausitz. Dem Lipsi, so sein Komponist René Dubianski, liege eine „urdeutsche Form“ zugrunde: Zwei Walzertakte werden zu einem 6/4-Takt verknüpft. Und die Musikproduzentin ergänzt: „Meiner Meinung nach ist der Sechsvierteltakt insofern ja sehr günstig, als hier Übertreibungen – wie beim sehr heiß gespielten Viervierteltakt – nicht kommen können.“ Bloß keine Schlägereien, wie man sie just bei Jugendlichen erlebt hat, die Rock’n’Roll getanzt haben – und dafür sogleich ins sozialistische Erziehungsheim gewandert sind.

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    dpa/PIC ONE | Peter Engelke

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Der sozialistische „Lipsi“: schwer zu tanzen, schnell vergessen

Der Tanzlehrer macht es vor: „Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs: Schritt-Tipp-Schritt-Tipp Schritt-schließen, Schritt-Tipp und so weiter.“ Trotz der Euphorie der Funktionäre im DDR-Kulturministerium: Der Lipsi ist schwer zu merken, schwer zu tanzen – und kurze Zeit später wieder vergessen.

Der Lipsi und die Tanzmusik-Konferenz in Lauchhammer sind keine Theater-Erfindungen, es gab sie tatsächlich. Hier sollte eine neue Unterhaltungsmusik für die DDR entwickelt werden, die sich am sozialistischen Alltag orientiert und die Menschen zu guten Sozialisten erzieht. Auch aus Furcht vor dem Einfluss der westlichen Musik auf das politische Bewusstsein der DDR-Bürger:innen.

Janette Mickan von der Recherchetheatergruppe Lunatiks und der Historiker Lothar Berndorff haben diese Akten der Konferenz im Archiv der Akademie der Künste ausgewertet und bringen sie nun in einem doku-fiktionalen und musikalischen Reenactment auf die Bühne am TD Berlin (ehemals Theaterdiscounter).

Walther Ulbricht hatte die Konferenz persönlich angeschoben. Auf fast 300 eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten sind Mickan und Berndorff auf so absurde wie größenwahnsinnige Entwürfe für die sozialistische Tanzmusik gestoßen.


Das Publikum als Konferenz-Teilnehmer:innen

In der ersten Stunde des Abends „Die Lauchhammer Files“ taucht das Publikum ein in die hoch offiziöse Konferenz von 1959. Auf der Bühne ein Podium mit Hammer-und-Sichel-Zeichen, Wimpeln und Schallplatten-Logos. Das Ensemble tritt in piefigen Anzügen und Bleistiftröcken auf, mit strammer sozialistischer Haltung. Die Zuschauer:innen werden zu Teilnehmenden der Konferenz, bekommen ein Heftchen mit der Tagesordnung in die Hand gedrückt und Kärtchen für die Abstimmungen (die allerdings alles andere als demokratisch verlaufen).

Im hinteren Bühnenteil steht eine Musikkapelle, vorgestellt als das „Lothar Berndorff Quartett“ plus Stefanie Mikus-Marx am Mikrofon, die immer wieder Songs zur Veranschaulichung spielt. „Alle tanzen Lipsi“ natürlich, „Du hast nen kleinen Mann im Ohr“ als Beispiel des optimistischen, zukunftzugewandten Schlagers, später auch „Mich hat noch keiner beim Twist geküsst“ als deutsche Twist-Variante.


Überzeichnung und Parodie

Fünf Schauspieler:innen schlüpfen in fliegendem Wechsel in die vielen Rollen der Schlagertexter:innen, Komponisten, Sänger:innen und Kulturfunktionäre – höchst überzeichnet, beinahe als Parodie der Konferenz inszeniert.

Und doch gibt es bei aller Komödie viel zu lernen: Liedtexte über Einsamkeit oder Unglück werden verunglimpft, weil der Mensch im Sozialismus ein glücklicher Mensch zu sein hat. Dutzende nichtssagende Lieder über die Liebe werden beauftragt – die sich aber von westlichen Rollenbildern zu unterscheiden haben.

„Im Westschlager heißt ein Mädchen ‚Baby‘ oder ‚Doll‘. Das beinhaltet eine Verniedlichung, die äußerst vielsagend und folgenreich ist. Sie ist nicht Partnerin, sondern Spielzeug, empfindlich, teuer, kapriziös – wird aber als Mensch niemals ernst genommen“, führt die Kulturministerin Karla Bork aus (resolut gespielt von Christine Rollar). „Bei uns entwickeln sich dagegen Beziehungen der Kameradschaftlichkeit, der Ungezwungenheit, der Offenheit, der Herzlichkeit zwischen Jungen und Mädchen. Auf diesem Boden kann die Liebe wachsen. Und gerade das soll der Schlager zum Ausdruck bringen, wenn er auf das Thema Liebe zurückgreift.“


Zeitreise ins Jahr 2025

Der zweite Teil des Abends spiegelt die Konferenz im Wissen von Heute. Eine junge DDR-Professorin trifft aus einer Zeitreise ins Jahr 2025 ein und konfrontiert die völlig überrumpelte Lauchhammer-Crew im Schnelldurchlauf mit den Ereignissen in der DDR-Kunst zwischen 1959 und 1989: Christa Wolf und der Bitterfelder Weg, die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Die ersten Verbote der Band Pankow, die Einführung einer staatlichen Spielerlaubnis für Musiker:innen, die bei Auftritten vorgelegt werden muss.


Kunst kann nicht verordnet werden

Damit gelangt der Abend zum Kern seiner spannenden Fragestellung: Ist die Wirkung von Musik und Kunst messbar und planbar? Nein, die „wahre“ Kunst, die Menschen tief innerlich erreicht, kann eben nicht verordnet werden. Die Überlegenheit der DDR lässt sich gerade nicht in der Tanzmusik zeigen, wie die Lauchhammer-Konferenz das gern gesehen hätte.

Zwar kann man durchaus infrage stellen, ob die komödiantische Überzeichnung der Lunatiks-Inszenierung, die alle DDR-Typen als große Dumpfbacken darstellt, zielführend ist. Schließlich ist der historische Stoff schon ohne Parodie absurd genug. Auch das Name-Dropping im historischen Schnelldurchlauf des zweiten Teils führt eher zu Verwirrung als zu Aufklärung.

Trotzdem lohnt sich diese musikalische Ausgrabung der Lauchhammer-Akten für die Bühne unbedingt. In einer ambitionierten, unterhaltsamen Musik-Sause zeigt der Abend fast nebenbei, dass ein politisches System am Ende ist, sobald die Künstler:innen aus Protest das Land verlassen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 12.07.2025, 9:54 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt