Seit 2020 war Denys Schmyhal Ministerpräsident der Ukraine – so lange wie kein anderer Politiker zuvor seit der Unabhängigkeit des osteuropäischen Landes im Jahr 1991.

An der Spitze der Regierung hat Schmyhal den Beginn der russischen Vollinvasion miterlebt. Den Verteidigungskampf seines Landes, der immer mehr zum brutalen Abnutzungskrieg wurde. Den Drohnen- und Raketen-Terror der Kreml-Truppen gegen ukrainische Zivilisten.

Doch nun ist Schluss. Am vergangenen Dienstag reichte der 49-Jährige sein Rücktrittsgesuch ein, was automatisch die Entlassung der gesamten Regierung zur Folge hatte. Am Donnerstag bestätigte das Parlament in Kyjiw das neue Kabinett.

Die Kabinettsumbildung soll signalisieren, dass der Präsident die politische Lage ernst nimmt.

Anna Kravtšenko, Politologin

Auf Wunsch von Präsident Wolodymyr Selenskyj soll das Kabinett künftig von Julia Swyrydenko angeführt werden, bislang Vize-Ministerpräsidentin und Wirtschaftsministerin. Schmyhal bleibt der Regierung erhalten, allerdings degradiert zum Verteidigungsminister. Außerdem wurden die Spitzen unter anderem des Justiz- und des Energieministeriums neu besetzt. Mehrere Politiker, darunter Außenminister Andrij Sybiha und Innenminister Ihor Klymenko, behalten ihre Ämter.

Es ist nicht das erste Mal, dass Selenskyj mitten im Krieg das Kabinett umbildet. Im September 2023 hatte er den damaligen Verteidigungsminister Olexij Resnikow nach einer Reihe von Korruptionsskandalen durch Rustem Umjerow ersetzt. Ein Jahr später räumten Außenminister Dmytro Kuleba und viele andere Minister ihre Posten. Doch was steckt dieses Mal dahinter?

Unmut und Korruptionsskandale

Selenskyj begründet den Wechsel unter anderem damit, der Ökonomie in seinem kriegsgeplagten Land neue Impulse verleihen zu wollen. Die 39-jährige Swyrydenko gilt als Fachfrau für ökonomische Fragen.

„Die Regierungsumbildung verschiebt in erster Linie Personal zwischen den Ministerien“, sagt Gwendolyn Sasse, die in Berlin das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien leitet. „Sie soll nach innen und nach außen politischen Handlungsspielraum signalisieren und Zweifel an der Effizienz der Regierung zerstreuen.“

Gwendolyn Sasse ist wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien sowie Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Anna Kravtšenko, Projektleiterin im Kyjiwer Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung, ergänzt: „Mehrere amtierende Minister sind in den letzten Monaten und Wochen ins Visier von Ermittlungsbehörden und Investigativjournalisten geraten.“ Einigen werden Korruption und fragwürdige Geschäftsbeziehungen vorgeworfen.

Auch der bisherige Regierungschef selbst hat in der eigenen Bevölkerung massiv an Popularität eingebüßt: In einer Umfrage des nicht-staatlichen Rasumkow-Zentrums gaben im Mai 56,6 Prozent der Befragten an, Schmyhal zu misstrauen – ein schlechter Wert verglichen mit vielen anderen Politikern.

Anna Kravtšenko ist Projektleiterin Ukraine und Belarus bei der Friedrich-Naumann-Stiftung mit Sitz in Kyjiw.

Dass er in der neuen Regierung überhaupt noch vertreten ist, sei wohl vor allem auf seine exzellenten Kontakte im Machtapparat und auf seine Loyalität gegenüber dem Präsidialamt zurückzuführen, sagt Politologin Kravtšenko.

„Schmyhal gilt zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung als mitverantwortlich für die schleppenden Reformprozesse und die weiterhin verbreitete Korruption innerhalb regierungsnaher Strukturen“, erklärt sie. „Die Kabinettsumbildung soll signalisieren, dass der Präsident die politische Lage ernst nimmt.“

Verstoß gegen das Kriegsrecht?

Unumstritten ist die Neuaufstellung der Regierung allerdings nicht. Mehrere ukrainische Medien wiesen in den vergangenen Tagen darauf hin, dass Selenskyj sich in einer rechtlichen Grauzone bewege, da die ukrainische Verfassung eine Entlassung des gesamten Kabinetts in Kriegszeiten eigentlich untersagt.

Kurz vor seiner Entlassung: Noch-Regierungschef Denys Schmyhal (re.) Anfang der Woche mit Präsident Wolodymyr Selenskyj.

© dpa/President Of Ukraine

Für Unmut sorgt zudem, dass das übliche Nominierungsverfahren nicht eingehalten wurde. Normalerweise schlägt das Parlament dem Präsidenten Ministerkandidaten vor – dieses Mal jedoch lief es umgekehrt. Auch Anna Kravtšenko sieht darin ein weiteres Zeichen für die wachsende und bereits in der Vergangenheit kritisierte Machtkonzentration in der Präsidialadministration.

„Es ist nicht auszuschließen, dass einige Abgeordnete dieses Vorgehen vor dem Verfassungsgericht anfechten werden“, sagt die Expertin. Sie gibt aber auch zu bedenken, dass ein Urteil noch Jahre auf sich warten lassen könnte.

Trump könnte profitieren

Bis dahin könnte von der neuen ukrainischen Mannschaft auch einer profitieren, an den man im ersten Moment vielleicht nicht denken würde: US-Präsident Donald Trump.

Die Ernennung Swyrydenkos unterstreicht die Bemühungen der Ukraine, Trump zu gefallen.

Gwendolyn Sasse, Osteuropa-Expertin

Denn die neue Regierungschefin Swyrydenko war in den vergangenen Monaten an der Aushandlung eines US-ukrainischen Rohstoffabkommens beteiligt, dessen Abschluss Trump viel bedeutet. In Washington genießt sie deshalb hohes Ansehen.

„Die Ernennung Swyrydenkos unterstreicht die Bemühungen der Ukraine, Trump zu gefallen und den Weg zu weiterer Unterstützung zu ebnen“, sagt Osteuropa-Expertin Sasse. Auch Kravtšenko betont Swyrydenkos gute Netzwerke auf internationaler Bühne.

Neue Eintracht: Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj (li.) will die gekitteten Beziehungen zu US-Präsident Donald Trump nicht verspielen.

© dpa/Ukraine Presidency

Hinzu kommt, dass infolge der Regierungsrochade auch der Botschafterposten in Washington neu vergeben wird, und zwar voraussichtlich an die bisherige Justizministerin Olha Stefanyschyna. Bislang wurde das Amt von Oxana Markarowa bekleidet – die wiederum vielen US-Republikanern ein Dorn im Auge ist, weil sie sie als parteiisch zugunsten der Demokraten empfinden.

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Markarowa sei es nicht immer gelungen, die angespannten Beziehungen zwischen Kyjiw und Washington zu managen, sagt Kravtšenko.

In einer Zeit aber, in der die Wogen zwischen Kyjiw und Washington wieder einigermaßen geglättet sind und in der Trump sogar mit Sanktionen gegen Russlands Handelspartner droht, will Selenskyj derartige Quellen für mögliche neue Verstimmungen offenbar ausräumen.