Eine Frau in Deutschland“ von Prune Antoine ist kein Krimi, sondern eine kluge, eindringliche Analyse über Mutterschaft, Gewalt und gesellschaftliches Versagen.

von Sebastian Meißner

Ein Verbrechen, das sprachlos macht

Im September 2020 erschüttert ein grausames Verbrechen die Bundesrepublik: In Solingen findet die Polizei fünf tote Kinder in einer Wohnung – ermordet von ihrer eigenen Mutter, Christiane K. Die Reaktionen sind von Entsetzen und Unverständnis geprägt. Das Gerichtsurteil, eine lebenslange Freiheitsstrafe, erfolgt rund ein Jahr später. Doch was bleibt, sind offene Fragen. Warum kam es so weit? Was kann eine Gesellschaft daraus lernen? Die französische Autorin Prune Antoine hat sich entschieden, tiefer zu graben – jenseits der juristischen Faktenlage.

Mutterschaft und Gewalt

Prune Antione Eine Frau in Deutschland Cover Hanser Verlag

In „Eine Frau in Deutschland“ erzählt Antoine nicht nur die Geschichte einer Täterin. Sie rekonstruiert das Leben von Christiane K. mit journalistischer Präzision und zugleich literarischem Feingefühl. Dabei arbeitet sie heraus, wie frühe Erfahrungen sexualisierter Gewalt, eine gewaltvolle Beziehung und die Überforderung als faktisch alleinerziehende Mutter von sechs Kindern zu einem toxischen Gemisch wurden. Prune Antoine verknüpft die Biografie der Täterin mit Reflexionen über Mutterbilder und die Rolle von Frauen in Deutschland und Frankreich – und zeigt eindrucksvoll, wie strukturelle Gewalt oft unsichtbar bleibt, bis sie eskaliert. Ihre Analyse entlastet nicht, aber sie erklärt. Und genau darin liegt die Stärke dieses Buches.

Prune Antoine zwischen Literatur und Aufklärung

Prune Antoine, geboren in Frankreich, lebt in Berlin und gilt als eine der profiliertesten Journalistinnen ihrer Generation. Ihre vielfach ausgezeichneten Reportagen erscheinen in renommierten Medien wie Le Monde, The Guardian oder Die Zeit. Als „Journalistin in Residence“ am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht widmet sie sich aktuell der Erforschung sexualisierter Gewalt im Kontext von Kriegen. Mit „Eine Frau in Deutschland“ legt sie ein eindrucksvolles Werk vor, das die Kategorien von Literatur, Journalismus und Gesellschaftsanalyse bewusst überschreitet – ein Buch, das unbequem ist, nachhallt und zum Nachdenken zwingt.

Prune Antoine: „Eine Frau in Deutschland. Der Fall der Christiane K.“, Hanser Verlag, übersetzt von Theresa Benkert, Hardcover, 247 Seiten, 9783446282711, 25 Euro. (Beitragsbild: Prune Antoine von Chloe Desnoyers)

von Sebastian Meißner

Jahrgang 1976. Kommunikationswissenschaftler, Redakteur und Autor. Er promovierte mit einer Arbeit zum Musikgeschmack, schreibt für diverse Magazine, Zeitschriften und Zeitungen und veröffentlichte mehrere Bücher. Zuletzt erschien von ihm „Molotow. Das Buch“ im Junius Verlag. Seine musikalischen Vorlieben reichen von klassischem Soul und Blues über Punk und Pop bis zu Jazz in all seinen Variationen. Zu seinen musikalischen Lieblingen gehören unter anderem Nina Simone, Stevie Wonder, Al Stewart, Ray Davies, Moondog, Pharoah Sanders, Lou Reed, Steely Dan.