„Die Ukraine gehört uns!“, habe der russische Staatspräsident Wladimir Putin erst jüngst in aller Offenheit verkündet, so Bundeskanzler Merz in seiner vor dem Haager Nato-Gipfel im Deutschen Bundestag vor wenigen Wochen abgegebenen Regierungserklärung. Welche Botschaft der deutsche Regierungschef vermitteln wollte, ist klar: Wer so redet, mit dem sind Verhandlungen nicht möglich. Wer so redet, versteht nur die Sprache der Stärke. Wer so redet, dem kann nur mit noch mehr Waffen an die Ukraine und mit massiver Aufrüstung entgegengetreten werden! Zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung? Ach was! Fünf Prozent müssen es für 32 Nato-Staaten sein, wenn Russland von seinem in spätestens fünf Jahren zu erwartenden imperialistischen Angriff auf uns alle abgeschreckt werden soll!
Wird da noch einer fragen, ob eine solche Annahme einem Plausibilitätstest standhält? Wird da noch einer fragen, ob noch mehr Waffen für die Ukraine ein Jota daran ändert, dass sich deren Verhandlungsposition in mehr als drei Jahren Krieg nicht verbessert, sondern verschlechtert hat, obwohl das Gegenteil andauernd in Aussicht gestellt wurde? Wird da noch einer fragen, ob Putin von Merz überhaupt richtig zitiert wurde und in welchem Sinnzusammenhang seine Äußerung steht?
Konfliktregelung durch Verhandlungen
Durch alle Lager hindurch besteht Einigkeit, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine durch Verhandlungen beendet werden wird – offen sind nur Zeitpunkt und Bedingungen, unter denen dies geschehen kann. Minimalziel ist ein Waffenstillstand, Optimalziel eine dauerhafte Friedensregelung. Während ein Waffenstillstand leicht zu einem lang anhaltenden und konfliktträchtigen sowie ein großes Wettrüsten auslösenden frozen conflict mutieren kann, böte eine dauerhafte Friedensregelung die Chance zur Schaffung einer erneuerten, kooperativen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa.
Fundamentale Voraussetzung für die Erreichung beider Ziele ist die Schaffung eines realistischen Bildes der Lage sowie der Positionen und Optionen aller relevanten Akteure. Wer Fehlperzeptionen unterliegt oder eigener Propaganda aufsitzt, wird nicht vorankommen.
Unklarheit und Unschärfe
Der westliche Diskurs über die Ziele aller Akteure in der Ukraine und darüber hinaus zeichnet sich durch ein stupendes Maß an Unklarheit und Unschärfe aus. Dass dies zu Missverständnissen, Fehlkalkulationen und Aneinandervorbeireden, im schlechtesten Fall zum Zusammenbruch jeglicher Kommunikation, zur Intensivierung von Feindschaft und zur Verunmöglichung verhandlungsgesteuerter Konfliktlösung führen kann, wird viel zu wenig wahrgenommen.
Die 32 Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten treffen sich hier zu einem zweitägigen Gipfel in Den Haag.Kay Nietfeld/dpa
Siegfrieden oder Kompromiss?
Ist Ziel des mit massiver westlicher Hilfe geführten Abwehrkampfs der Ukraine deren Nato-Mitgliedschaft, die Rückgewinnung aller besetzten Gebiete, Reparationen Russlands sowie Anklage Putins vor einem Kriegsverbrechertribunal? Soll die Ukraine diese Ziele unter Inkaufnahme noch größerer Belastungen und Schäden weiterverfolgen, bis hin zur Gefahr weitreichender Konsequenzen im Fall einer totalen Niederlage? Soll die westliche Unterstützerkoalition die Ukraine auf diesem Kurs weiter ermutigen?
Oder fassen die Ukraine und ihre Unterstützer einen Kompromissfrieden ins Auge, in dem die genannten Ziele ganz oder teilweise aufgegeben werden?
Solange offenbleibt, in welche Richtung es bei der Beantwortung dieser Fragen gehen soll, ist eine Beendigung des Krieges durch Verhandlungen kaum zu erwarten. Aufschlussreich ist, dass viele, die an einen ukrainischen „Siegfrieden“ glauben oder dies zumindest vorgeben, nach Hinweis auf dessen geringe Erfolgschancen die Unvermeidlichkeit einer Kompromisslösung einräumen, sich zu deren Einzelheiten aber nicht äußern wollen. Der Grund liegt auf der Hand: Außer dem Präsidenten der Supermacht USA, der sich gewisse Extravaganzen herausnehmen kann, zumal wenn es ein Donald Trump ist, will sich niemand dem Vorwurf aussetzen, der Ukraine durch Ausbuchstabieren möglicher Konzessionen den Dolch in den Rücken gestoßen zu haben. Lieber bleibt man da bei der Beteuerung ungebrochenen Unterstützungswillens – in der Erwartung, dass die Ukraine angesichts einer kritischen Entwicklung der Lage um die Erklärung ihrer Bereitschaft zu einem Kompromissfrieden nicht mehr herumkommt.
Abschreckung oder kooperative Friedensordnung?
Die Formel, derzufolge nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine das aus der Ära der Entspannungspolitik überkommene Konzept der Sicherheit mit Russland durch Sicherheit vor Russland ersetzt werden müsse, lässt die für Europas Zukunft fundamentale Frage unbeantwortet: Soll die dem Kalten Krieg vergleichbare erneute Herausbildung eines Systems konfrontativer Hochrüstung und wechselseitiger Abschreckung zum Dauerzustand werden oder soll eine kooperative europäische Sicherheitsordnung angestrebt werden, wenn auch nur in längerer Perspektive? Dass beide Ansätze sehr unterschiedliche Strategien erfordern, liegt auf der Hand.
Westliche Sicht russischer Positionen und Ziele
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs konkurrieren im Westen zwei höchst unterschiedliche Deutungsmuster:
1. Revisionistisch-imperialistische Agenda
Putin will nicht nur den sowjetischen Machtbereich wiederherstellen, sondern eine russische Hegemonie über ganz Europa errichten, wofür auch militärische Mittel eingesetzt werden. Die Vernichtung der Ukraine als Staat und Nation und ihre Einverleibung in den russischen Staatsverband ist nur der erste Schritt: „Russland wird nach der Ukraine nicht stehenbleiben!“, weiß Bundeskanzler Merz. Das rationaler Politik nicht zugängliche autokratische System Putin ist zur Machterhaltung auf permanente außenpolitische Konfrontation angewiesen.
2. Kein „Anti-Russland“ an der Grenze
Wegen seiner entschiedenen Ablehnung eines hochgerüsteten westlichen Bollwerks vor Russlands Haustür hat sich Putin zu einer militärischen Intervention entschlossen, nachdem klar geworden war, dass dieses Ziel auf dem Verhandlungsweg nicht zu erreichen war. Russland nutzt dabei die Gelegenheit, sich Gebiete in der Ostukraine zu sichern, die es wegen deren vorwiegend russischer Besiedlung und willkürlicher Grenzregelungen aus sowjetischer Zeit glaubt beanspruchen zu können.
Die Erkenntnis, dass beide Sichtweisen höchst unterschiedliche Konsequenzen für die Chancen einer Konfliktregelung haben, erfordert keine große Expertise. Allerdings fragt sich, ob mit Genauigkeit wahrgenommen und analysiert wird, welche Position die russische Führung tatsächlich einnimmt und über welche Machtinstrumente sie zu ihrer Durchsetzung verfügt.
Könnte es sein, dass sich die Europäer den Weg aus dem Debakel dieses sie selbst massiv schädigenden Krieges selbst verbauen, indem sie in dem Wunsch, breite Unterstützung für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aufrechtzuerhalten, einen Russlandpopanz aufbauen, den sie wie der Zauberlehrling nicht mehr loswerden?
Genaue Erkundung und Analyse der Positionen der russischen Führung ist daher nicht „Russland-Versteherei“, sondern liegt in unserem eigenen besten Interesse, denn wer auf der Grundlage ungenauer, falscher oder selbsterzeugter propagandistischer Vorstellungen handelt, kann sich schweren Schaden zufügen.
Wladimir Putin will nicht nur den sowjetischen Machtbereich wiederherstellen, sondern eine russische Hegemonie über ganz Europa errichten. Oder?Alexander Zemlianichenko/AP
Hat Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 einen „Neuen Kalten Krieg“ erklärt?
Seit Beginn des russischen Angriffs wird immer wieder behauptet, dieser liege auf der Linie des von Putin bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 erklärten „neuen Kalten Krieges“. Diese wirkmächtige Deutung hatte der Publizist Josef Joffe in die Diskussion eingeführt. Sachlich zutreffend und politisch produktiver wäre es gewesen, Putins engagierte Intervention im Sinne eines Weckrufs bezüglich der langfristigen Wirkungen problematischer westlicher und insbesondere amerikanischer Vorgehensweisen aufzugreifen, wie zum Beispiel die Regelung von Konflikten mit militärischen Mitteln unter Missachtung des Völkerrechts in den Fällen Kosovo und Irak, die fehlende Bereitschaft zu gemeinsamer Konfliktlösung, die Schaffung neuer Trennlinien durch Nato-Erweiterungen, die Kündigung von Rüstungskontrollabkommen, der Aufbau eines stabilitätsgefährdenden Raketenabwehrsystems, die Verweigerung von Rüstungskontrolle im Weltraum et cetera. Zumal in den USA, wo sich der seit Anfang der 90er-Jahre recht aufgeschlossene Blick auf das neue Russland im Gefolge von Putins Umgang mit der Causa Chodorkowski bereits merklich eingetrübt hatte, wurden solche Vorwürfe nicht gern gehört. Welchen Verlauf hätten die Dinge womöglich genommen, hätte sich der Westen auf eine ernsthafte Beschäftigung mit Putins Kritik eingelassen?
Putins Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ bis zur letzten Seite lesen
In Diskussionen über den Ukrainekrieg kommt regelmäßig der Augenblick, in dem einer behauptet, Putin habe in seinem Essay von 2021 nicht nur dem ukrainischen Staat, sondern sogar der ukrainischen Nation die Existenzberechtigung a limine abgesprochen, woraus sich das Ziel seiner „Spezialoperation“ selbstredend ergebe. Richtig ist, dass in Putins Geschichtsbild Russen und Ukrainer eine historisch-politische Einheit bilden, was angesichts eines jahrhundertelangen Zusammenlebens beider Völker in demselben Herrschafts- und Staatsverband keine Überraschung sein sollte. Allerdings scheinen die Kritiker womöglich wegen der Langatmigkeit des historisch weit ausholenden Textes die Lektüre abgebrochen zu haben, da bei ihnen nie die Rede davon ist, dass Putin in der Schlusspassage den geschichtlich gewachsenen Wunsch der Ukrainer nach einem eigenen souveränen Staat ausdrücklich anerkennt. Dabei verweist er auf die Beziehungen zwischen den ebenfalls aus gemeinsamer Geschichte hervorgegangenen Staaten Deutschland und Österreich als ein Beispiel konstruktiver Nachbarschaft. Warum solle dies für Russland und die Ukraine nicht auch möglich sein? Putins Warnung, dass Russland eine sich als „Anti-Russland“ verstehende Ukraine jedoch unter keinen Umständen hinnehmen werde, war unmissverständlich. Hätte viel Unheil abgewendet werden können, wenn der Artikel zu Ende gelesen worden wäre?
Verhandlungsinitiative 2021/2022
Ende 2021 versuchte Russland Verhandlungen über europäische Sicherheit in Gang zu bringen, deren Hauptziel die Verhinderung des Beitritts der Ukraine und anderer ehemals zur Sowjetunion gehörender Staaten zur Nato sowie die Beendigung deren bereits laufenden Ausbaus zu engen militärischen Partnern der Atlantischen Allianz war. Das weitere Ziel einer Rücknahme der im Zuge der Nato-Osterweiterungen ab 1997 entstandenen Präsenz westlicher Truppen in den mittelosteuropäischen Beitrittsländern stieß insbesondere bei diesen auf massiven Widerstand.
Nachdem Nato und USA die russische Initiative ins Leere hatten laufen lassen, äußerte der erfahrene Henry Kissinger, dass er Russland in einen Verhandlungsprozess zu involvieren versucht hätte, wie dies im Gefolge der Berlin-Krise von 1958 bis zur KSZE-Schlussakte von 1975 mit Erfolg praktiziert worden sei. Als Befürworter der Nato-Osterweiterung hatte sich Kissinger schon 1994 unter Verweis auf russische Empfindlichkeiten gegen eine Stationierung amerikanischer Soldaten in den Beitrittsländern ausgesprochen, und in der Nato-Russland-Grundakte von 1997 sind nicht ohne Grund Begrenzungen hinsichtlich der Stationierung westlicher Truppen in den mittelosteuropäischen Nato-Beitrittsstaaten vereinbart worden. Zu diesem Zeitpunkt war an die Möglichkeit eines Nato-Beitritts der Ukraine nicht einmal im Entferntesten gedacht worden. Nach drei Jahren überaus verlustreichen Krieges muss daher die Frage erlaubt sein, ob eine nüchterne Lagebeurteilung 2021/22 nicht besser zu dem Schluss gekommen wäre, im Sinne von Kissingers Ansatz vorzugehen, statt einem sich abzeichnenden russischen Angriff zuzuschauen, zumal eine ukrainische Niederlage binnen weniger Tage erwartet wurde.
Dümmer als ein Tisch?
Bei einem 2024 mit westlichen Journalisten geführten Gespräch wurde Putin auf die Sorge vor einem Angriff Russlands auf die Nato angesprochen. „Sind Sie so dumm wie dieser Tisch. Sehen Sie sich das Potential der Nato und Russlands an. Glauben Sie, dass wir verrückt sind?“, platzte ihm sichtlich der Kragen. Das Ganze sei eine absurde Erfindung, um Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuhalten.
Vertreter der Nato während eines Treffens der Koalition der Willigen auf einem Militärstützpunkt im Northwood-Hauptquartier im Nordwesten LondonsLudovic Marin/AFP
Sagt Putin die Wahrheit – oder glaubt er, die NATO täuschen zu können? Ist Putin gar ein notorischer „Lügner“, so wie er nach Ansicht vieler „gelogen“ hat, als er kurz vor dem russischen Angriff eine solche Absicht in Abrede stellte? Aber ist die Kategorie der „Lüge“ in politisch-militärischen Zusammenhängen überhaupt angemessen? Wird Boris Johnson der „Lüge“, bezichtigt, wenn er bestreitet, Selenskyj die Annahme eines sich abzeichnenden russisch-ukrainischen Verhandlungsfriedens ausgeredet zu haben? Letztlich weiß man nur, dass der Grat zwischen Tatsachenfeststellung und Propagandaproduktion schmal ist.
Interesse an Verhandlungen
Der wechselseitige Vorwurf fehlender Verhandlungsbereitschaft gehört zum Standardrepertoire jeder Kriegspropaganda. So wird die Tatsache, dass Russland seine Angriffe in einer Situation sogar noch massiv intensiviert, in der sich die Ukraine doch zu Verhandlungen über einen „bedingungslosen Waffenstillstand“ bereit erklärt, als Beleg für fehlende russische Verhandlungsbereitschaft gedeutet – ob aus Naivität oder aus Kalkül, kann dahingestellt bleiben. Für die Ukraine ist diese Deutung doppelt vorteilhaft: Zum einen erscheint die Fortsetzung des ukrainischen Abwehrkampfes und seiner westlichen Unterstützung alternativlos und zum anderen nimmt niemand mehr wahr, dass ein russisches Verhandlungsangebot längst auf dem Tisch liegt.
Russland hat sich nämlich zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand bereit erklärt, sofern diese mit der Klärung der zentralen Fragen einer Friedensregelung verbunden werden. Hier gehen die Interessen beider Seiten fundamental auseinander: Russland will sich nicht auf einen reinen Waffenstillstand einlassen, weil die Ukraine diesen leicht in einen frozen conflict transformieren kann, bei dem Russland seine Kriegsziele nie erreichen kann, weil eine einseitige Wiederaufnahme der Kampfhandlungen politisch schwierig und militärisch verlustreich wäre. Die „Spezialoperation“ hätte sich damit als ein äußerst kostspieliger Fehlschlag erwiesen, was Putins Stellung in Russland gefährden würde. Auf der anderen Seite will sich die ukrainische Führung nicht auf eine Verhandlung und schon gar nicht auf eine Akzeptanz der russischen Forderungen einlassen. Da ihr klar sein dürfte, ihre eigenen Kriegsziele in überschaubarer Zukunft nicht erreichen zu können, ist für sie ein alles offenhaltender Waffenstillstand die beste aller schlechten Optionen.
„Die Ukraine gehört uns!“
Hat Putin diesen – verstörenden – Satz gesagt, wie von Merz behauptet? Hat Putin bei einer international Beachtung findenden Veranstaltung das Existenzrecht der Ukraine in Abrede gestellt? Stimmt also die These vom revisionistischen Russland?
Friedrich Merz: „Russland wird nach der Ukraine nicht stehenbleiben.“Michael Kappeler/dpa
Schaut man sich Putins Auftritt beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum im Juni dieses Jahres genau an, zeigt sich, dass der – ohnehin nicht richtig zitierte und aus einem komplexen Sinnzusammenhang gerissene – Satz seine Ausführungen zum Themenkomplex Ukraine auf den Kopf stellt. Tatsächlich legt Putin Wert auf die Feststellung, dass „Russland das Recht des ukrainischen Volkes auf Unabhängigkeit und Souveränität nie bestritten“ habe, fügt aber hinzu, dass sich die Ukraine in ihrer Unabhängigkeitserklärung 1991 zu „Neutralität und Ungebundenheit verpflichtet“ habe. Kurz nach Beginn des Krieges sei zwischen beiden Seiten eine Friedensregelung ausgehandelt worden, die Premierminister Boris Johnson, unterstützt von Präsident Joe Biden, in Kiew torpediert habe – es gebe Kräfte, die Russland eine „strategische Niederlage“ beibringen wollten. Russlands Ziel sei nicht eine „Kapitulation“ der Ukraine, sondern deren Anerkennung der „territorialen Realitäten“.
Lügt Putin? Wir können es nicht wissen. Wir wissen aber, dass man sich selbst schadet, wenn die Positionen von Gegnern schief, falsch oder gar nicht wiedergegeben werden, da lagegerechtes Handeln nur auf der Grundlage umfassender Sachkenntnis möglich ist. Die Beurteilung, ob Gesagtes wahr, falsch oder gelogen ist, muss in einer freiheitlichen Ordnung Sache der Bürger sein. Kein gutes Zeichen ist es daher, dass die deutschen Medien zu Ausführungen zur russischen Sicht des Krieges so gut wie nichts berichten, wenn man von einigen in das eigene Deutungsschema scheinbar passenden Zitat-Häppchen absieht.
XXL-Aufrüstung ohne Bezug zum militärischen Kräfteverhältnis
Interessiert sich jemand für die Frage, ob Russland überhaupt über die militärischen Mittel verfügt, um die russischen „Revisionskriege zur Wiederherstellung der Weltmacht Russland und zur Erlangung der Hegemonie über Europa“ (so Joschka Fischer) mit Aussicht auf Erfolg führen zu können?
Dass Präsident Trump beim Nato-Gipfel die Bündnistreue der USA bekräftigt hat, mag jene überrascht haben, die mit Warnungen vor einer sich angeblich verflüchtigenden Sicherheitsgarantie der USA eine gigantische Aufrüstung Europas befördern wollen. Nur: Was sollte die USA veranlassen, ihre – auch für weltweite Machtprojektion – äußerst vorteilhafte Position in Europa zu räumen, die sich vor allem in ihrer Führungsrolle im Nato-Bündnissystem manifestiert? Mit im New Yorker Immobilienbusiness erlernter brachialer Druckausübung wollte Trump lediglich massive Erhöhungen der Verteidigungsausgaben der Verbündeten erzwingen, nicht zuletzt, weil dies der US-Rüstungsindustrie enorm zugute kommen wird. Nachdem er mit dem Fünf-Prozent-Beschluss dieses Ziel erreicht hat, hat er keinen Grund mehr, an der US-Bündnisverpflichtung weiterhin Zweifel zu säen. Im Übrigen: Nehmen die Talkshow-Großstrategen im Ernst an, dass die Planer der „künftigen russischen Revisionskriege“ das Risiko eines Eingreifens der USA an der Seite Europas einfach ignorieren können?
Jeder halbwegs Informierte weiß, dass die Nato unter Einschluss der USA Russland militärisch haushoch überlegen ist. Dass es sich so verhält, ergibt sich schon daraus, dass die USA sich selbst als größte Militärmacht der Welt bezeichnen, was sich unter anderem in ihrem gigantischen Verteidigungshaushalt und in Hunderten weltweit verstreuten Militärstützpunkten manifestiert. Die USA sind die einzige Macht, die überall zuschlagen kann, wie jüngst in Iran zu beobachten. Zu den USA kommen 31 (!) verbündete Staaten hinzu, darunter zwei Nuklearmächte und mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien drei Staaten, deren Verteidigungsbudgets zu den acht größten der Welt gehören.
US-Präsident Donald Trump am Washington MonumentMandelNgan/AFP
Die Annahme, Russland könnte angesichts solch drückender Überlegenheit einen Angriff auf Nato-Staaten riskieren, erfordert eine blühende Fantasie. Abgesehen davon, dass Russland seit mehr als drei Jahren Krieg führt und daher fortlaufend große Verluste ausgleichen muss, kann man seine mit aufgesetzter westlicher Sorge kommentierten Aufrüstungsbemühungen als Reaktion auf die starke westliche Überlegenheit deuten, die mit dem Fünf-Prozent-Beschluss noch weiter ausgebaut wird: Paradebeispiel für einen ebenso kostspieligen wie sinnlosen Rüstungswettlauf.
Die Daten des International Institute for Strategic Studies machen deutlich, dass von der andauernd kolportierten hoffnungslosen Unterlegenheit Nato-Europas gegenüber Russland keine Rede sein kann. Vergleicht man aggregierte Verteidigungshaushalte und Bestände zentraler Waffensysteme der EU 27, Großbritanniens und Norwegens mit jenen Russlands, ergibt sich für 2024 ein bemerkenswertes Bild:
Auch wenn die ausgewählten Parameter die Kampfkraft von Streitkräften selbstverständlich nicht umfassend abbilden und die Europäer bei wichtigen Fähigkeiten („strategic enablers“) aufholen müssen (weil sie sich bei diesen immer auf die USA verlassen haben), wird deutlich, dass die Nato den mit der Fünf-Prozent-Forderung unterstellten Nachholbedarf nicht hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit haben bekannte Aufrüstungsverfechter mit Emphase die Auffassung vertreten, dass die Nato-Welt mit der Erreichung des Zwei-Prozent-Ziels wieder in Ordnung sein würde. Das Fünf-Prozent-Ziel hat keine in der Sache liegende Begründung, sondern ist lediglich zur Besänftigung von Trump erfunden worden. Eine Ironie besonderer Güte ist, dass die USA unter diesem Präsidenten um eine Verbesserung ihrer Beziehungen mit Russland vor allem im wirtschaftlichen Bereich bemüht sind – wobei man bei Trump einen erratischen Kurswechsel nie ausschließen kann – während sie den Verbündeten ein Wettrüsten mit eben diesem Land aufdrängen, das wegen seiner immensen langfristigen finanziellen Belastung der Wettbewerbsfähigkeit Europas großen Schaden zufügen kann.
Die Panzerbataillon 203 der Bundeswehr bei einer Nato-ÜbungDavid Inderlied/imago
Freund-Feind-Denken oder genaue Analyse
Viel wäre für die Wiederherstellung und die Sicherung des Friedens in Europa gewonnen, wenn sich Politik und Medien bei der Behandlung des Krieges in der Ukraine und künftiger sicherheitspolitischer Herausforderungen anstelle des weithin dominierenden Freund-Feind-Denkens auf genaue Analyse der Motive, Interessen, Ziele und Mittel der relevanten Akteure fokussieren würden.
[1] Kaufkraftbereinigt: 460
Botschafter a.D. Hellmut Hoffmann, geb. 1951, 1982–2016 im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland, darunter Teilnahme an den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa und 2009–2013 Leiter der deutschen Abrüstungsmission in Genf.
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