Die Insomnia Brass Band startet mit einer akustisch-optischen Täuschung. Schlagzeuger Christian Marien spielt einen typischen Marching-Band-Rhythmus, die Band selbst läuft aber keinen Meter. Das fühlt sich ein wenig so an, als beobachte man am Bahnhof stehend durch das Zugfenster eine abfahrende Bahn. Die Bassline aus dem Baritonsaxofon von Almut Schlichting klingt wie eine ganze Bläsersektion, das ändert sich auch nicht, als Posaunistin Anke Lucks die Bassfunktion übernimmt, damit das Baritonsaxofon eine solierende Todesrolle vollbringen kann, bei der sie alles von röhrendem Tiefton-Funk bis überblasene Hochgeschwindigkeitskapriolen aus dem Instrument herausholt.
Damit hat das Berliner Trio das Publikum schon nach knapp zehn Minuten geschnappt wie ein jagender Alligator, der mit Todesrollen seine Beute erlegt. Warum ihr aktuelles Album „Crooked Alligator“ heißt und was die Band überhaupt mit dem Reptil am Hut hat, erzählt Schlichting in einer abstrus-lustigen Geschichte über Steuerberater, Wodka und das Spreeufer, die in eine ähnlich dadaistische Instumentalperformance aus gedämpfter Posaune, Stolpersaxofon und Humpelschlagzeug mündet. Daraus schält sich wiederum eine stampfende Funknummer, die eine Verfolgungsjagd in einem Bond-Streifen untermalen könnte, wäre die Filmreihe im Arthouse-Slapstick verwurzelt. Am Ende stolpert der elegante Geheimagent kläglich über den Shaker von Drummer Marien, wird kurz von der Posaune ausgelacht und muss mit ansehen, wie Schlagzeug und Baritonsaxofon in halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Gassen der Stadt brettern, bevor sie an der Wand eines Jazzclubs zerschellen.
Der Wind im Brunnenhof tut ein Übriges
Wer behauptet, dass Free Jazz und traditioneller New-Orleans-Sound unvereinbar sind, sei hiermit widerlegt. Im Jazz geht nämlich ausnahmslos alles, und nicht zuletzt die zweite, aber nicht minder wichtige Bühne des Jazzsommers im Brunnenhof beweist das bei der Insomnia Brass Band so wie bei jedem weiteren Act, der für dieses Jahr auf diese Bühne gebucht wurde. Alligatoren haben übrigens einen langsameren Stoffwechsel als ihre nahen Verwandten, die Krokodile, und lassen es generell gerne langsamer angehen. Wenn die Insomnia-Musiker dieses Verhaltensmuster übernehmen, entfalten sie die größte Intensität. Die Posaune spielt ein hypnotisches Dreiton-Motiv, das Schlagzeug lässt mit spärlichem Beat Köpfe nicken, das Saxofon erzählt von wirren Träumen, der im Brunnenhof aufkommende Wind, der Blätter zum Rauschen bringt, tut sein Übriges.
Doch welche Geschwindigkeit oder welcher musikalische Einfluss auch immer herrscht, Insomnia zeigt, was das Trio für eine fantastische Besetzung an sich ist. Es klingt nach mindestens doppelt so vielen Mitgliedern, bietet aber jedem Instrument Raum genug, um den Charakter des Moments zu beeinflussen, und klingt transparent genug, um auch die kleinsten Details hörbar zu machen: die beeindruckenden Doppeltöne und Fensterputzgeräusche aus der Posaune, die knallende Snaredrum, die klingt, als wäre sie einige Jahrzehnte in der Sommerhitze des Mississippideltas gereift, die bebenden Frequenzen der tiefsten Baritonsaxofon-Töne.
Auf gleicher Höhe: Abwechslungsreichtum und Unterhaltungswert
Wegen unvorteilhafter Oberkieferstellung sehen Alligatoren von der Seite übrigens immer aus, als würden sie lächeln. Das Publikum lächelt ganz anatomie-unabhängig nach dem Konzert dieser sympathischen Band, bei der Abwechslungsreichtum und Unterhaltungswert streiten, wer der prominentere Vertreter ist. Schwer zu sagen, daher einigen wir uns unter den unparteiischen Augen des Alligators auf ein Unentschieden.
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Sebastian Kraus
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