Nach dem deutschen 1:4 gegen Schweden stand an dieser Stelle, dass die Deutschen vor dem Scherbenhaufen ihres Turniers stehen. Das passendere Bild wäre wohl gewesen: Die Tür zu ihrem Aus ist zerdeppert, hält zwar noch irgendwie zusammen, aber Frankreich muss sie nur noch durchtreten. Und dann das: Trotz 110 Minuten Überzahl streichelten die Französinnen diese Tür nur sanft, zerfressen von Versagensangst. Ja, es war bei zwei Abseitstoren und einer sagenhaften Berger-Parade auch ein wenig Pech dabei – aber das von Deutschland mit vollem Einsatz angebrachte Klebeband hielt die rissige Türe heil.

Es war DAS Match des Turniers bisher und das denkwürdige Spiel sagt über beide Teams sehr viel aus. Über das französische Panik-Orchester ebenso wie über die Deutschen, die zwar den Vorwurf des Schönwetter-Fußballs widerlegten – aber nach dem heroischen Kampf auch aufpassen müssen, dass die grundlegenden Fragen in der DFB-Frauensektion nicht in den Hintergrund treten. Diese wurden vom Spielverlauf in Basel nämlich nicht beantwortet.

Die deutsche Ausgangslage

Deutschland hat keine einzige Rechtsverteidigerin mehr im Kader, offenbarte gegen Schweden eklatante taktische Schwächen, der linken Abwehr-Seite fehlt es massiv am Tempo. Wie genau Christian Wück es angehen wollte, ist Spekulation – in den ersten paar Minuten war es jedenfalls ein 4-1-4-1 mit Minge auf der Sechs sowie Hendrich und Knaak in der Innenverteidigung. Nach der frühen Verletzung von Linder – die in Abwesenheit der verletzten Gwinn und der gesperrten Wamser nach rechts geschoben wurde – spielte Deutschland tatsächlich aber kaum mehr als fünf Minuten in dieser Formation.

Der Ausschluss von Kathrin Henrich, die im Zuge eines in den Strafraum segelnden Freistoßes die aufgerückte Griedge Mbock-Bathy durchaus mit einer gewissen Zugkraft an deren Haarzopf zurückhielt, mag ein situatives Blackout oder eine impulsive Dummheit gewesen sein; ihre ungläubige Reaktion legt eher Ersteres nahe. Jedenfalls war Deutschland danach eine weniger und 0:1 im Rückstand, weil Geyoro den fälligen Strafstoß über die Linie zitterte.

Frankreich spielt es richtig schlecht

Aus dem deutschen System wurde ein 4-4-1, in dem Minge statt Hendrich in die Abwehr ging und Kleinherne statt der verletzten Linder rechts hinten spielte. Damit stand man im tiefen Block und versuchte sich der Französinnen zu erwehren. Das gelang überwiegend exzellent, weil man selbst extrem präsent war und sehr gut gegen den Ball arbeitete. Aber auch, weil Frankreich praktisch alles falsch machte, was man falsch machen kann.

  • Die Außenverteidigerinnen – vor allem Élise de Almeida rechts – blieben in der Spieleröffnung extrem weit hinten, wodurch es nie möglich wurde, rasch genug eine Überzahl ins Angriffsdrittel zu bringen.
  • Statt auf schnelle Ballstafetten zu setzen, um zwischen die deutschen Linien zu kommen oder die Kette auseinander zu ziehen, wie es Schweden exzellent geschafft hatte, wurde fast immer das Dribbling oder das Eins-gegen-Eins gesucht. Im Zweikampf hatten die Deutschen aber klare Vorteile.
  • In Wahrheit spielte auch Frankreich eigentlich zu zehnt, weil Sechser Oriane Jean-François über weite Strecken konsequent ignoriert wurde. Sie kam auf einen Ballkontakt alle 84 Sekunden – das ist nur Platz sechs unter den zehn Startelf-Feldspielerinnen – und viele davon waren in Zweikämpfen, nicht im Aufbau. Ein Indiz dafür, dass Frankreich viel zu selten auf Seitenwechsel setzte, sondern sich auf eine Spielfeldseite committete (meistens die linke, Bacha hatte die meisten Ballkontakte aller Französinnen).
  • Anpassungen für die zweite Hälfte? Gab es nicht. Anstatt irgendwas zu ändern oder zu versuchen, die eigenen Schwächen abzustellen, ging es einfach genau so weiter.

In den zwei, drei Situationen, in denen Frankreich Tempo ins Passspiel brachte, wurde man sofort gefährlich – in der 40. Minute ging Cascarinos vermeintlichem Treffer zum 2:1 (Nüksen hatte zwischenzeitlich nach einem Eckball ausgeglichen) ebenso ein Abseits voraus wie in der 57. Minute bei jenem von Geyoro. Sehr viel mehr kam von Frankreich nicht – ohne den Elfer zur frühen Führung waren es rund 1,3 Expected Goals, war bei 110 Minuten Überzahl doch eher dünn ist.

Letztlich hatte Deutschland sogar schon in der regulären Spielzeit den Sieg am Fuß, Sjoeke Nüsken scheiterte aber in der 70. Minute mit ihrem Elfmeter an Pauline Peyraud-Magnin. Andererseits rettete Ann-Katrin Berger in der 103. Minute, als Minge einen Ball unglücklich in Richtung eigenes Tor ablenkte. Nach insgesamt 138 intensiven, aber auch überwiegend zerfahrenen und spielerisch ziemlich zähen Minuten ging es ins Elfmeterschießen, dort hielt Frankreich – gemessen am rissigen Nervenkostüm – erstaunlich gut mit, Alice Sombath verschoss letztlich den vierzehnten und entscheidenden Versuch.

Deutschland – gut geeignet für Defensiv-Kampf…

Der deutsche Frauenfußball und dessen Erfolge in den 90ern und 00er-Jahren basierte vor allem auf überlegener Physis und dem, was gemeinhin als „Mentalität“ vermittelt wird: Kampfgeist, rennen bis zum Umfallen, nicht aufgeben. Das, was gemeinhin als „deutsche Tugenden“ galt und zu dem man gerne „über den Kampf ins Spiel finden“ sagte.

Das hat bis Mitte der 2010er-Jahre ausgereicht, die Einschläge (wie die Heim-WM 2011) kamen näher, aber Deutschland lavierte sich noch irgendwie zum EM-Titel 2013 und rumpelte zum grandios unverdienten Olympiasieg von 2016. Mentalität und Physis reichten dann aber im Vergleich mit den anderen, auf- und letztlich überholenden Ländern irgendwann nicht mehr aus und seither ist Deutschlands Frauenfußball eher ein Struggle.

Weil das Fehlen des nun nötig gewordenen dritten Standbeins (nämlich das Taktisch-Inhaltliche) die Stabilität beeinträchtigte. Strategische Klasse blitzte immer wieder in einzelnen Spielen auf, wie beim super-cleveren Sieg gegen Spanien bei der WM 2019 oder dem tollen EM-Halbfinale gegen Frankreich 2022. Oftmals hatte dieses DFB-Team seine besten Moment aber mit psychologischer Zähigkeit (wie in der Olympia-Quali für 2024), während sich die wichtigen Spiele häuften, in denen man durch Hirnschmalz ausmanövriert wurde. Das EM-Viertelfinale gegen Dänemark 2017 etwa, die Spiele gegen Schweden im WM-Viertelfinale 2019 und jetzt bei der EM 2025, die vorsintflutlichen Auftritte bei der der WM 2023.

Wenn Deutschland auf die beiden alten Attribute Mentalität und Physis zurückgeworfen wird, wie nun in diesem Viertelfinale gegen Frankreich, gibt es kaum bessere Teams auf dieser Welt. Die medialen Prügel nach dem 1:4 gegen Schweden letzte Woche haben sicher auch einiges zu einer Jetzt-Erst-Recht-Stimmung beigetragen. Was Kampfgeist angeht, hat dieses deutsche Team den Charaktertest eindrucksvoll, denkwürdig und mit wehenden Fahnen bestanden.

Im tiefen Block verteidigend, war bei Knaak nicht das Tempo-Defizit auffällig, sondern die Kopfball- und Zweikampfstärke. Janina Minge ist trotz ihrer relativen Frische im Kreise des DFB-Teams nicht umsonst Ersatz-Kapitänin für Giulia Gwinn, sie vermittelt die Resilienz in Spielweise und Körpersprache. Senß, die Wadelbeißerin im Mittelfeld, warf sich mit Verve in jeden Zweikampf. Giovana Hoffmann hielt vorne, so lange die Kraft da war, immer wieder gut die Bälle. Franziska Kett und Sophia Kleinherne wurden zu selten überladen und konnten sich damit ins Spiel reinklammern.

… aber die grundsätzlichen Fragen bleiben

Aber so sehr dieser Abend von Basel auch in die deutsche Frauenfußball-Geschichte eingehen wird: Er war nicht dazu geeignet, zahlreiche grundsätzliche Fragen zu beantworten, die sich nach der Gruppenphase ergeben haben. Denn der Kader kann gut mit einem defensiven Spiel umgehen, aber ein hohes Pressing geht sich mit der Besetzung in der Defensive immer noch nicht aus, zumindest wenn eine Lena Oberdorf nicht da ist. Kämpferin Senß und die eher offensiv ausgerichtete Nüsken ergänzen sich nicht immer optimal.

Die Naivität, mit der sich Deutschland schon in personellem Gleichstand von Schweden die Laufwege manipulieren und das Mittelfeld aufreißen ließ, war bedenklich, aber nichts davon war gegen Frankreich ausschlaggebend und das wird es höchstwahrscheinlich auch im Halbfinale gegen Spanien nicht sein. Nicht umsonst hat Spanien noch nie gegen Deutschland gewonnen.

Als Fußball-Nation mit dem logischen Anspruch, zu den Weltbesten zu gehören, ist Kampfgeist und Widerstandskraft wichtig. Es reicht aber alleine nicht für Erfolgsstabilität aus, das haben die letzten zehn Jahren gezeigt.

Und die Gefahr besteht, dass dieser Erfolg und ein möglicher gegen Spanien und, wer weiß, womöglich sogar einer im Endspiel gegen Italien oder (wohl eher) England, die Sinne vernebelt. So wie bei den deutschen Männern, die mit Libero, Manndeckern, Kampf-Fußball, Wucht und Wille den EM-Titel von 1996 erzwangen und sich danach einredeten, dass ja eh alles in Ordnung ist, während der Rest der Fußball-Welt weiterzog und man einen jahrelangen Rückstand aufgerissen hatte, bis man 2004 doch erkannte, dass man den deutschen Fußball grundlegend neu denken muss.

Oder eben wie die deutschen Titel von 2013 und 2016.

Frankreich, von Versagensangst zerfressen

Was Kathrin Hendrich da mit dem Zug am Zopf von Mbock-Bathy gemacht hat, ob Absicht oder nicht, war haarsträubend un-clever. Aber was Frankreich in der restlichen Spielzeit angestellt hat, war in seinem ganzen kollektiven Versagen noch viel erschütternder. Es war geradezu tragikomisch.

Und vor allem: Es ist nicht mit den Maßstäben eines normalen Fußballspiels oder normalen taktischen Maßnahmen zu bewerten, die funktionieren oder eben nicht. Was bei Frankreich an diesem Abend in Basel los war, passierte zu 90 Prozent nicht in den Beinen, sondern im Kopf.

Frankreich hatte in fünf der sechs Halbzeiten seiner Gruppe mit England, den Niederlanden und Wales das Geschehen weitgehend bis komplett im Griff, spielte seine Physis aus und den tiefen Kader, hätte eigentlich voller Selbstvertrauen in das Viertelfinale gegen einen am Boden liegenden Gegner gehen müssen. Oder eben: Einfach nur die zerdepperte deutsche Tür endgültig einrennen. Und dann dieses Geschenk durch Hendrich und die Führung, aber all das gab eben keine Sicherheit. Sondern eher das Gefühl: Das DÜRFEN wir jetzt aber nicht mehr aus der Hand geben.

Und so wurde aus der Ruhe nach der Führung zunehmend Pomadigkeit, kroch in die Erleichterung immer mehr die Verunsicherung hinein, umso mehr nach dem deutschen Ausgleich, der aus dem Nichts kam. Frankreich konnte nicht hoch anlaufen und Unordnung bei den dezimierten Kontrahentinnen stiften, sondern war gegen einen robusten Gegner selbst zum Handeln gezwungen, konnte also seine größten Stärken nicht ausspielen. Und je länger das Spiel dauerte, desto greifbarer wurde aus der Verunsicherung die Angst, weil man vorne nichts zustande brachte, dass diese widerstandsfähigen Deutschen irgendwie im Konter oder aus einem Standard oder aus einem eigenen Fehler einen Treffer erzielen. Der Elfmeter, so soft der Pfiff von Referee Olofsson auch war, hatte schon sehr den Geschmack einer Self-Fulfilling Prophecy.

Wir können nun natürlich auch über Wendie Renard reden, die Teamchef Bonadei aussortiert hat. Mbock-Bathy und Lakrar sind im Aufbau besser, keine Frage, aber sie strahlen nicht annähernd die Gefahr aus, welche die Riesin aus Guadeloupe bei offensiven Eckbällen hat. Und bei Alice Sombath, die dann für die nach Verletzung noch nicht ganz fitte Mbock-Bathy kam, fehlt dann noch dazu die internationale Routine. Nicht ganz zufällig, dass zwei Tage nach der 18-jährigen Smilla Holmberg für Schweden nun die 21-jährige Alice Sombath den im jeweiligen Shoot-Out entscheidenden Penalty vergab.

Aber vor allem muss man in diesem Kontext über die letzten 15 Jahre reden, die sich ganz, ganz tief in die französische Psyche eingebrannt haben. Das ewige Scheitern nicht mal kurz vor dem Ziel, sondern zumeist eben schon auf halbem Weg. Frankreich läuft mittlerweile schon im emotionalen Ausnahmezustand ein, wenn auf einem Match schon „Viertelfinale“ draufsteht. Von den letzten neun Viertelfinals hat Frankreich acht verloren.

Langzeit-Schäden zu befürchten?

Welchen Effekt hat nun diese Niederlage mittelfristig auf Frankreich? Als Brasilien 2011 das WM-Viertelfinale auf ähnlich dramatische Art und Weise gegen die USA verlor, war das praktisch der Todesstoß für jenes Team in Martas Glanzzeit, das in den Jahren zuvor in zwei Olympia- und einem WM-Finale gewesen war.

Oder, um bei Frankreich zu bleiben: Es gab die verdienten bis apathischen Viertelfinals wie 2016 und 2017 oder 2019, wo der Gegner halt besser war und man selbst im ganzen Turnier nicht so richtig gezündet hat. Oder das von 2023, als man nach 120 ausgeglichenen Minuten den einen Elfer zu viel vergeben hat, kann passieren. Aber es gab eben auch Montréal 2015, vor zehn Jahren, als Frankreich vermeintlich auf dem Weg zum (sicheren?) WM-Titel ausschließlich an der eigenen Chancenverwertung und an einem dämlichen Wechsel des damaligen Trainers Philipp Bergeroo scheiterte. Dieses Spiel hat Frankreich damals nachhaltig K.o. geschlagen. Es dauerte Jahre, bis man wieder den Status eines ernsthaften Titelkandidaten erlangte. Mutmaßlich hat Frankreich das bis heute nicht.

Die Arbeit von Mentaltrainer Thomas Sammut (der aus den Schwimmern Florent Manaudou und Léon Marchand Olympiasieger machte) verpuffte. Trainer Laurent Bonadei darf zwar bleiben, das bestätigte Verbands-Boss Philipp Diallo am Montag, aber sein Standing hat fraglos gelitten und die Ausbootung von Renard, Le Sommer und Dali („Wenn ich andere Ergebnisse haben will, muss ich andere Spielerinnen einberufen“) könnte ihn noch verfolgen.

Es wird auch auf absehbare Zeit keine neue Generation geben. Einerseits, weil die Truppe nach dem Aussortieren der Alten schon im guten Fußballer-Alter ist – Jean-François (23), Bacha (24), Lakrar (25), Baltimore (25) und Katoto (26) sind längst Stamm, Sombath (21) und N’Dongala (20) ernsthafte Alternativen und die jeweils 21-jährigen Samoura und Bogaert schnuppern schon rein. Und zum anderen, weil ansonsten gerade offenkundig keine potenziellen Weltklasse-Kapazunder nachkommen: Die recht anonyme U-20 ist letztes Jahr mit nur einem Sieg aus vier Spielen (und der war gegen Fidschi) früh aus der WM ausgeschieden, die aktuelle U-19 war zwar im EM-Finale, wurde dort aber 0:4 von Spanien gedemütigt.

Es wird also das aktuelle Personal richten müssen, das nächste Groß-Turnier ist die WM in Brasilien in zwei Jahren. Vorher steht noch im Herbst die Finalrunde der Nations League an, in dieser hat Frankreich 2023/24 das bisher einzige Finale erreicht. Die Französinnen gehen als Gruppensieger ohne Punktverlust in das Ende Oktober in Hin- und Rückspiel ausgetragene Halbfinale.

Der Gegner? Deutschland.