Seok kam durch geschmuggelte USB-Sticks und SD-Karten zum ersten Mal in Kontakt mit Musik aus Südkorea. Mit seiner älteren Schwester hörte er sich K-Poplieder an, die über die nahe Grenze zu China ins Land gelangten. Heimlich, in seiner nordkoreanischen Heimat sind Medien aus dem ­Süden streng verboten. Die Verbreitung südkoreanischer Kultur kann mit dem Tod bestraft werden. Selbst Minderjährige werden in Arbeitslager geschickt. Seok ist dem entgangen, 2019 ist er nach Seoul ­geflohen – und er ist nun sogar selbst ­K-Popstar.

Hyuk hat in Nordkorea nie K-Pop­musik gehört. Er lebte in der Region ­Kyongsong, entfernt von der Grenze, wo weniger Schmugglerwaren ankommen. Außerdem, so sagte er der Nachrichtenagentur AFP, war seine Familie so arm, dass sich das „Anschauen von Musik­videos wie ein ­Luxus für mich angefühlt hat. In meinem Leben ging es nur ums Überleben“. Er musste öfter Lebensmittel stehlen, weil seine Familie sich keine leisten konnte. Jetzt ist auch er Sänger.

Am Freitag vor einer Woche hat die Boygroup der beiden, 1Verse, ihr offizielles Debüt mit der Single „Shattered“ ge­feiert. Davor haben die fünf jungen Männer schon ein weiteres Lied, „Multiverse“, herausgebracht und sich seit mehr als einem Jahr mit Gesangs- und Tanzcovern sowie ­Comedyvideos in den sozialen Medien ei­nen Namen gemacht. Sie sind damit die erste K-Popgruppe, die Mitglieder aus Nordkorea hat. Dabei ist die südkoreanische Unterhaltungswelt längst international aufgestellt. Die meisten Gruppen haben Mitglieder, die zwar asiatische Wurzeln ­haben, aber im englischsprachigen Ausland aufge­wachsen sind, oder die aus ­Japan, China oder Südostasien kommen. Gleichzeitig leben etwa 30.000 Flüchtlinge aus Nordkorea im Süden. Warum also gab es bislang keine Stars aus Nordkorea?

Hyuk beantwortet diese Frage indirekt, als er in einem Interview über seine Inspiration spricht. „Ich möchte Hoffnung ­geben, dass auch die Unterprivilegierten ei­nen großen Traum haben können, indem ich Nordkoreaner zeige, die große Träume haben“, sagte er dem Onlineportal ­Kstation TV.

Viele Nordkoreaner finden sich nach ihrer Ankunft schlecht in Südkorea ­zu­recht. Ihre Bildung ist nicht auf dem gleichen Stand, sie sind vom Konkurrenzkampf in Südkoreas Arbeits­markt überfordert, haben ihr ­soziales Umfeld ver­lo­ren, kämpfen mit Vorurteilen. Die Regie­rung in Seoul ­bietet zwar Unterstützung an, aber die Flüchtlinge haben dennoch einen schwierigen Start. „Viele Über­läu­fer ­sehen eine unüberwindbare Kluft zwischen sich und K-Popstars“, sagte Hyuk der BBC. „Für uns ist das kaum eine Karriere­option.“ Auch er sah das lange so, obwohl er schon als Jugendlicher Musik machte. 2013 folgte er im Alter von 13 Jahren seiner Mutter nach Seoul, die zuvor geflüchtet war. Nach seiner Ankunft hörte er zum ersten Mal K-Popmusik. Sie zog ihn sofort in den Bann, wie er der Zeitung „Chosun Daily“ erzählte. In der Schule trat er dem Musikklub bei und fing an, eigene Rap­texte zu schreiben. „Das war nur ein Hob­by. Ich habe nie darüber nachgedacht, eine Karriere als K-Popkünstler anzu­streben.“

In Liedtexten und in Gedichten verarbeitete er seine Erfahrungen auf der Flucht, die ihn durch mehrere Länder führte, und seine Schwierigkeiten in Südkorea. Er hatte in Nordkorea nur die Grundschule besucht und vermisste ­sei­nen Vater, bei dem er vorher gelebt hatte. „Ich konnte nicht offen darüber reden, was ich erlebt hatte, aber ich wollte es fest­halten“, sagte er der BBC.

Seine Texte waren ein Grund, warum er entdeckt wurde. 2018 trat Hyuk in einem Bildungsprogramm auf, und die Gründerin seiner Plattenfirma, Michelle Cho, erkannte sein musikalisches und stimm­liches Talent. Sie wollte ihn rekrutieren, aber er glaubte weiterhin nicht an seine musikalischen Fähigkeiten. „Ich war skeptisch und fand es schwer, zu glauben“, dass Cho ihn unter Vertrag nehmen wollte, ­sagte er „Chosun Daily“. Zudem musste er aus Geldnot neben dem Studium in ei­ner Fabrik arbeiten und hatte nur am Wochenende Zeit für Gesangs- und Tanzunterricht.

Nach einem Jahr wurde er doch „Trainee“ bei Chos Label Singing Beetle, während Cho nach weiteren Mitgliedern für die Gruppe suchte. Mit dem ebenfalls aus Nordkorea geflohenen Seok, dem chinesisch-amerikanischen Kenny, Nathan mit thailändischen und lao­tischen Wurzeln, Aito aus Japan bildet Hyuk 1Verse, aus­gesprochen wie das englische Wort ­„uni­verse“. Der Name soll verdeutlichen, dass „jedes Mitglied seine eigene einzigartige Geschichte mitbringt, um ein einheit­liches Universum von Geschichten und Iden­titäten zu schaffen“, wie die Plattenfirma schreibt.

Die Mitglieder stehen hinter dieser ­Vision. Kenny sagte „Chosun Daily“, dass er keine Vorbehalte hatte, eine Gruppe mit nordkoreanischen Flüchtlingen zu ­bilden: „Für mich sind Nord­koreaner nicht anders als alle anderen.“ Aito hatte durch Nachrichten über Nordkorea zwar keine gute Meinung von dem Land. Seine Sorgen seien aber verschwunden, als er Hyuk und Seok kennenlernte. Er hofft, dass es auch anderen so gehen könnte: „Ich denke, dass wir durch 1Verse vielleicht dazu bei­tragen können, die Sichtweise der Menschen (auf Nordkoreaner) zu ändern.“