Drohnen und Satelliten beeinflussen den Kriegsverlauf in der Ukraine. Besonders gut ist die ukrainische Armee darin, neue Technologien zu adaptieren. Die westlichen Armeen sollten rasch von ihr lernen.
Sowjetische Waffen, aber digital vernetzt: Ein ukrainischer Soldat feuert eine Haubitze ab an der Front in der Region Saporischja.
Reuters
Der Ukraine-Krieg ist ein Lehrstück für die europäischen Armeen. Das steht fest. Doch welche Lehren sie aus dem Konflikt ziehen sollen, ist weniger klar. Eine wichtige Konstante an der Front in der Ukraine ist der stetige technologische Wandel. Drohnen kommen heute ganz anders zum Einsatz als noch zu Beginn des Krieges vor drei Jahren. Die Innovation im Krieg ist gross.
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Damit steht das Militär vor einer grossen Herausforderung. Europa muss seine Verteidigungsfähigkeit stärken – und aufrüsten. Diese Erkenntnis scheint angekommen zu sein. Gleichzeitig müssen sich die Streitkräfte den neuen Arten der Kriegsführung anpassen. Wie die Armee der Zukunft aussehen wird, ist allerdings noch weitgehend offen.
Der Ukraine-Krieg gibt hierzu kaum konkrete Hinweise. Er zeigt nicht, wie sich die Steuerung von Drohnen in den nächsten fünf Jahren verändern wird oder welche militärischen Anwendungen die Quantentechnologie in zehn bis zwanzig Jahren bringen wird. Doch der Blick auf das Schlachtfeld gibt Aufschlüsse darüber, in welchen Bereichen Herausforderungen auf die Armeen warten.
1 – Digitale Vernetzung bis an die Frontlinie
Die Ukraine hat es geschafft, praktisch von Beginn des Krieges weg die Informations- und Befehlsflüsse innerhalb ihrer Armee zu digitalisieren und so massiv zu beschleunigen. Das ermöglicht ein rasches Reagieren auf Angriffe. Die Geschwindigkeit hat sich als wichtiger Faktor erwiesen.
Wichtig dabei ist das selbstentwickelte Führungssystem Delta der ukrainischen Armee. Aber genauso entscheidend sind Produkte privater Firmen. So erlaubt die Satellitenkommunikation über das Starlink-System von Elon Musks Firma SpaceX eine stabile Datenverbindung mit mobilen Geräten. Von der privaten amerikanischen Firma Palantir steht das Zielerkennungssystem MetaConstellation im Einsatz.
2 – Drohneninnovation mit experimentellem Charakter
Der Drohnenkrieg zeigt augenfällig, wie technologische Entwicklung das Kriegsgeschehen beeinflusst. In der Ukraine setzen beide Seiten an der Front in grossem Masse Drohnen zur Aufklärung und zu Kamikaze-Angriffen ein – so wie das bisher in keinem Krieg geschehen ist. Dabei findet ein technischer Wettbewerb darum statt, wer mit neuen Mitteln – zum Beispiel Glasfaserkabeln – die gegnerische Abwehr überwinden kann. Gleichzeitig geht es darum, herauszufinden, wie man die neuen technischen Möglichkeiten am besten einsetzt.
Der Ukraine ist es zum Beispiel gelungen, mit selbstentwickelten Marinedrohnen der russischen Flotte im Schwarzen Meer bedeutende Verluste zuzufügen und sie stark zurückzudrängen. Das Land treibt zudem die Entwicklung von unbemannten Fahrzeugen voran, von denen aber bisher noch keine spektakulären Einsätze an der Front bekannt sind.
3 – Gelungener Einsatz von Lowtech
Der Ukraine-Krieg zeigt auch die Grenzen von Hightech-Entwicklungen. Es ist nicht unbedingt die neuste Technologie, die die Kriegführung verändert. Entscheidender ist es, die richtige Einsatzform zu finden, auch wenn es sich um bestehende Produkte handelt. Dies zeigt sich an der ukrainischen Front mit den FPV-Drohnen (First Person View). Dabei handelt es sich um Kleindrohnen, wie sie auch im Elektronikfachhandel erhältlich sind. Sie werden zur Aufklärung oder mit entsprechender Anpassung für tödliche Kamikaze-Angriffe eingesetzt.
Die Ukraine verfolgt einen pragmatischen Ansatz
Die Ukraine ist ein Land im Krieg. Es geht ums Überleben. In dieser Situation gilt: Wer nicht kreativ ist in der Entwicklung und Adaption neuer Technologien, läuft Gefahr, vom Gegner getötet zu werden. In der Ukraine ist zu sehen, wie Forschung und Industrie geeint hinter der Armee stehen. Zusammen entwickeln sie neue Lösungen.
Dass die Ukrainer kreativ sein können – technisch wie operationell –, haben sie in den vergangenen Monaten immer wieder bewiesen. Jüngst etwa mit der Operation «Spinnennetz», als sie in Holzkisten FPV-Drohnen in die Nähe von russischen Flugplätzen brachten, um so Angriffe auf Kampfjets zu fliegen. Eine neue Einsatzart für Kleindrohnen war geschaffen.
Gleichzeitig verfolgt die Ukraine einen pragmatischen Ansatz – gezwungenermassen. Egal, ob sie militärischen Nato-Standards entspricht oder nicht: Hauptsache ist, dass die Lösung funktioniert. Tut sie das nicht, muss sie angepasst werden. Dieser experimentelle Ansatz erlaubt eine rasche Entwicklung von neuen Geräten und neuer Software.
Die Ukrainer kennen auch keine Hemmungen, bestehende zivile Lösungen von privaten Firmen in ihre militärischen Prozesse zu integrieren. Wichtig ist, dass der technische Vorsprung einen Vorteil auf dem Schlachtfeld bringen kann.
Westliche Armeen haben bürokratische Prozesse
In den westeuropäischen Armeen ist die Ausgangslage für derartige Innovationen schlechter. Die Beschaffungsprozesse sind kompliziert, stark geregelt und dauern entsprechend lange. Hinzu kommt, dass herkömmliche Waffensysteme meist abgeschlossene Systeme sind, die kaum Schnittstellen zu anderen IT-Systemen haben. Ein Datenaustausch ist nicht vorgesehen.
Dieses Problem ist erkannt. Die Armeen befinden sich derzeit in einem Prozess der digitalen Transformation. Die Rede ist von Software Defined Defence (SDD), also einer Software-basierten Verteidigung. Das Ziel ist, die militärischen Systeme zu vernetzen und die Datenverarbeitung in Echtzeit zu ermöglichen. Indem die eigene Truppe über mehr oder bessere Informationen verfügt als der Gegner, soll sie ihm überlegen sein.
Doch der Umbau ist schwierig. Das zeigt sich in der Schweiz zum Beispiel an den Schwierigkeiten, die sich bei der Integration der verschiedenen Systeme auf der zentralen Datenplattform NDP ergeben. Hinzu kommt, dass die grossen traditionellen Rüstungsfirmen über die neue Entwicklung nicht immer erfreut sind. Indem sie ihre Systeme öffnen müssen, geben sie Macht ab.
Es ist deshalb kaum ein Zufall, dass das zentrale militärische Führungssystem SitaWare, das innerhalb der Nato weit verbreitet ist, nicht von einer grossen Rüstungsfirma, sondern von einem unabhängigen dänischen Unternehmen stammt. Diese Art von Software fügt Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu einem grossen Bild zusammen – und soll damit bessere Entscheide ermöglichen. Der Datenfluss verändert die militärische Führung im Gefecht. Die Ukraine hat in dieser Hinsicht vorgelegt.
Die grosse Menge an Daten ermöglicht es auch, schneller bessere Lehren aus dem Kriegsgeschehen zu ziehen. Der Ukraine-Krieg ist vermutlich der erste Konflikt, in dem Live-Daten der Kämpfe vorhanden sind. Die Auswertung dieser Informationen erlaubt taktische Anpassungen im Gefecht beinahe in Echtzeit.
Wer das Geschehen auf dem Schlachtfeld rascher und besser analysiert als sein Gegner und diese Erkenntnisse zeitnah zur kämpfenden Truppe an der Front bringt, ist im Vorteil. Flexibel die eigene Kriegsführung anzupassen, wird zur entscheidenden Fähigkeit einer Armee.
Flexibilität braucht es nicht nur innerhalb der Armee, sondern auch bei der Zusammenarbeit mit den Rüstungsfirmen. Waffensysteme können heute nicht mehr einfach entworfen, produziert und dann für vierzig Jahre eingesetzt werden. Die technologische Entwicklung zwingt die Armee und die Hersteller zu konstanten Verbesserungen und Weiterentwicklungen.
Die Ukraine ist auch in diesem Bereich Vorbild. Der Rüstungssektor und die Armee arbeiten eng zusammen. Die Erfahrungen aus dem Einsatz an der Front fliessen an die Entwickler und Ingenieure zurück. Ein Drohnenhersteller in der Ukraine betreibt zum Beispiel ein Callcenter, bei dem sich Soldaten rund um die Uhr mit Fragen und Problemen melden können. Das sind wertvolle Informationen.
Stetiger Austausch zwischen der Truppe und der Industrie
Welche technologischen Entwicklungen die nächsten Jahre bringen werden, ist nicht klar. Um darauf vorbereitet zu sein, müssen die Armeen Prozesse entwickeln, um rasch reagieren zu können. Innovationszentren, wie sie die Bundeswehr oder die Schweizer Armee haben, reichen nicht.
Die Beschaffungsprozesse müssen sich dem Vorgehen bei der Softwareentwicklung annähern. Es braucht permanente Rückmeldungen von den Nutzern mit regelmässigen Updates des Produkts. Der Austausch der Armeen mit den Rüstungsunternehmen muss intensiv sein. Die Projektteams beider Seiten arbeiten vielleicht gar im gleichen Gebäude. Und idealerweise sind es Firmen des Vertrauens, die sich im eigenen Land befinden.
Für diesen Wandel braucht es die entsprechenden juristischen und organisatorischen Grundlagen, um Beschaffungen dynamischer gestalten zu können. Und der vielleicht entscheidendste Faktor: Es braucht Menschen, die gerne an neuen Lösungen tüfteln und Freude an ständiger Veränderung haben.
Der Ukraine-Krieg kann für die europäischen Armeen ein Lehrstück sein. Doch die Lehren, die sie daraus ziehen, dürfen sich nicht auf einzelne Technologien beschränken. Die grosse Erkenntnis aus dem Konflikt ist, dass die Streitkräfte künftig mehr Flexibilität, Offenheit und Kreativität brauchen. Nur mit diesem Kulturwandel kann die Aufrüstung Europas gelingen.