DruckenTeilen
Amsterdam 1941: Besatzer bei einer Sportveranstaltung, rechts in Zivil Bürgermeister E. J. Voute. © Piemags/Imago
„Nirwana“ von Tommy Wieringa: Ein Mann, der in den Niederlanden als Wirtschaftsboss gefeiert wird, hat eine dunkle Vergangenheit.
Im neuen Roman des niederländischen Schriftstellers Tommy Wieringa, „Nirwana“, taucht ein Schriftsteller auf mit Namen Tommy Wieringa. Der recherchiert die Geschichte eines bedeutenden Industriellen. Dieser Mann, Willem Adema, wird zu Beginn des Buches 100 Jahre alt. Sein Sohn kommt zu Besuch, auch seine beiden Enkel, die 40-jährigen Zwillingsbrüder Hugo und Willem.
Während Willem jun. inzwischen die großväterliche Firma führt (sein Vater, also die Generation dazwischen, war nur zeitweiliger Platzhalter), hat Hugo sich auszahlen lassen und als bildender Künstler eigene Wege eingeschlagen. Er ist die eigentliche Hauptfigur des Romans. Angestoßen durch den neugierigen Schriftsteller, geht auch er ins NIOD, ins Niederländische Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien, und lässt sich die Akten zu seinem Großvater geben. Er wühlt einiges auf.
In einem viereinhalbseitigen Vorabkapitel gibt es schon ein paar Hinweise auf Fragen, die auf den folgenden 470 Seiten wichtig werden. Da ist Hugo als Teenager bei seinen Respekt gebietenden Großeltern in der Villa nördlich von Den Haag, nah am Meer. Seine Eltern haben ihn dort geparkt, um ihn der Wut und den Schlägen seines temperamentvollen Bruders zu entziehen. Das Verhältnis der Zwillinge zueinander wird nie gut werden, auch Hugos Beziehung zu den Eltern ist durch die dreijährige Trennung gestört. Was die kleine Tätowierung am Oberarm des Großvaters bedeutet, die er zufällig entdeckt, kann er nicht wissen. Die SS ließ so die Blutgruppe vermerken.
Über Kollaboration wurde wenig geredet
Über etwa ein Jahr dehnt sich die Gegenwartsebene dieses Romans. Den politischen Hintergrund bilden der erste Wahlsieg Donald Trumps und das Erstarken einer neuen rechten Partei in den Niederlanden. In der Zeit treibt Willem jun. mit dem Familienkonzern Adema Marine Operations die Entwicklung eines Förderschiffs voran, größer und flexibler als alle vorherigen; Firmen aller Staaten, die Offshore-Bohrungen vornehmen, sind potenzielle Abnehmer.
Willem Adema sen., so erzählt es der Roman, hatte stets erklärt, er sei zwar „Befürworter der deutschen Ideologie“ gewesen, habe sich aber 1943 dem SS-Dienst entziehen können und dem Widerstand angeschlossen. Hugo nennt dies „eine klassische Erzählung von Sünde und Bekehrung“.
Es wirkt wie ein ironischer Trick, dass der fiktive Tommy Wieringa in Tommy Wieringas Roman als Katalysator auftritt und Hugo in die Spur setzt, die tatsächliche Vergangenheit des Großvaters und weitere Familiengeheimnisse zu ergründen. Als würde hier dem üblichen Verfahren, dass ein Schriftsteller Dinge aus der Wirklichkeit künstlerisch nutzt, ein doppelter Boden eingezogen.
Das viel bewunderte Familienoberhaupt hat in der SS Karriere gemacht, am Russlandfeldzug teilgenommen, hat daran verdient und seinen Nachkriegserfolg darauf aufbauen können. Wieringa und Hugo Adema recherchieren dies zunächst wie „in einem unsichtbaren Wettstreit“. Der Maler verachtet dabei den Schriftsteller: „Wie armselig und parasitär die Literatur doch war, eine Kunstgattung, die sich aus dem Leben der anderen bediente und so tat, als gäbe sie es unabänderlich verbessert zurück.“
Er erhält einen entscheidenden Vorsprung (wodurch, sei hier nicht verraten). Hugo, künstlerisch eben noch wie gelähmt, weil ihn seine Freundin verlassen hat, kann wieder arbeiten. Nicht ein Buch im Buch, also der mögliche von der Wieringa-Figur verfasste Roman, enthüllt letztlich die grausamen Fakten. Es sind die Bilder, die Hugo Adema malt und zusammen mit einer Toninstallation ausstellen will. Ihr Entstehungsprozess und ihr Charakter sind so gut beschrieben und von Bettina Bach ins Deutsche übertragen, dass man sie vor Augen hat.
Das Buch
Tommy Wieringa: Nirwana. Roman. A. d. Niederländ. v. Bettina Bach. Hanser, München 2025. 478 S., 28 Euro
Ungewöhnlich für einen Roman, sind an seinem Ende Quellen aufgeführt. Dazu gehört die Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Firma Heerema Marine Contractors. Im Netz findet man die Beschreibung, sie sei eines der führenden Dienstleistungsunternehmen in der Offshore-Öl- und -Gas-Industrie. Sie als Vorbild der Firma im Roman zu identifizieren, lässt noch deutlicher sehen, dass Wieringa ein Problem in der öffentlichen Wahrnehmung seines Landes behandelt: Wegen der Besetzung durch die Deutschen seit dem Mai 1940 galt die niederländische Bevölkerung allgemein als Opfer, über Nazikollaborateure wurde wenig gesprochen.
Man muss an Philipp Oehmkes Buch „Schönwald“ denken, 2023 erschienen, im selben Jahr wie das Original von „Nirwana“. Dieser Familienroman geht von dem realen Vorfall aus, dass in Berlin einer Frau vorgeworfen wurde, sie hätte ihre Buchhandlung mit ererbtem schmutzigen Geld finanziert. Das Wort „Nazihintergrund“ machte damals die Runde. Oehmke erfindet für die Figuren um die Buchhändlerin Geschichten aus dem Problemkasten der Gegenwart.
Viele überraschende Wendungen
Auch Tommy Wieringa nutzt den Nazihintergrund eines Industriellen, um zu schildern, wie Verbrechen vertuscht wurden. Dafür erzählt er noch von weiteren Personen, beschreibt deren Verhalten in verschiedenen Situationen. Seine Roman-Familie ist nicht gut umgegangen mit Menschen, die ihr gefährlich werden konnten, sogar aus dem engsten Kreis.
Die Sorge vor dem Erstarken des Populismus kommt im Buch hinzu, der beschleunigte Klimawandel wird bemerkt, ein weiteres Thema ist die Erniedrigung von Frauen durch Männer. Geschickt variierend, verbindet Wieringa das Personal mit diesen Fragen auf mehreren Ebenen und auch untereinander. „Nirwana“ führt die Debatten unserer Tage in einem beeindruckenden Tableau zusammen.
Selbst der vermeintlich saubere Hugo, ein Mann, dessen Leidenschaft für die Meditation sich der Titel verdankt, hat Abgründe. Er hat für ein Bild Geld aus fragwürdiger Herkunft bekommen, ahnend, dass es „nach Erpressung und verbrannten Haaren“ stank. Und dann sorgt die Verbindung zu seiner Ex-Freundin noch einmal für einen starken Höhepunkt – nicht der letzte in diesem Buch voll überraschender Wendungen.