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Mit seinem Vorgehen gegen die zentralen Antikorruptionsbehörden riskiert der ukrainische Präsident Selenskyj mehr als seine Glaubwürdigkeit. Es birgt die Gefahr, das Land zu spalten.
Wolodymyr Selenskyj untergräbt in nur wenigen Tagen jahrelang erarbeitete Reformen im Kampf gegen die Korruption. Der Präsident schafft damit einen kritischen Moment für die Ukraine. Denn sein Vorgehen birgt die Gefahr, das Land zu spalten und die Moral der Bevölkerung im kräftezehrenden Abwehrkampf gegen Russland zu brechen.
Das einst unabhängige staatliche Antikorruptionsbüro und die Sonderstaatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung unterstehen nun de facto dem Selenskyj gegenüber loyalen Generalstaatsanwalt. Unangenehme Ermittlungen gegen Loyalisten aus dem Umfeld des Präsidenten könnten nun blockiert werden – so die Befürchtung vieler Kritiker.
Mühsam erkämpfte Institutionen
Beide Institutionen gelten als ineffizient und reformbedürftig. Und vielleicht sind sie tatsächlich durchsetzt gewesen von russischen Agenten, wie der ukrainische Präsident nun behauptet. Doch all diese Probleme löst das neue und im Schnelldurchlauf angenommene Gesetz nicht.
Es katapultiert die Ukraine institutionell um mehr als zehn Jahre zurück. Denn die nun entmachteten Institutionen sind ein Ergebnis der Revolution der Würde. 2013 und 2014 kämpften Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer für Rechtstaatlichkeit und eine europäische Perspektive. All das droht nun zerstört zu werden.
Problematische Entscheidung in schwerer Zeit
Selenskyj riskiert damit Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei der eigenen Bevölkerung, aber auch bei den westlichen Partnern zu verlieren. Und das zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Die Situation an der Front ist schlecht. Der ukrainischen Armee fehlt es noch immer an Personal und an Waffen. Russland terrorisiert mit Angriffen aus der Luft systematisch die Bevölkerung. Die Menschen sind erschöpft und oftmals frustriert angesichts vieler ungelöster Probleme.
Nun nimmt ihnen der eigene Präsident eine hart erkämpfte Errungenschaft: unabhängige Ermittlungsbehörden, die Korruption auch auf höchster staatlicher Ebene bekämpfen sollen. Warum? Das ist vielen in der Ukraine unklar. Manche vermuten: Die Behörden müssen offenbar zu eng in Selenskyjs eigenem Umfeld ermittelt haben.
Verrat an den Werten des Maidan
Oder vielleicht war der Zeitpunkt auch einfach nur günstig. Schon lange werfen Kritiker dem ukrainischen Präsidenten vor, Macht zu zentralisieren – und dafür das Kriegsrecht zu missbrauchen. Nun – so argumentieren einige – schaut die US-Administration den Ukrainern nicht mehr so genau auf die Finger. Und lang anhaltende Massenproteste seien kaum zu befürchten angesichts von Krieg und Ausgangssperre.
Selenskyj muss die Unabhängigkeit des Antikorruptionsbüros und der Sonderstaatsanwaltschaft wieder herstellen. Ansonsten verrät der ukrainische Präsident all die Werte, für die die Menschen auf dem Maidan gekämpft haben – und für die sie bis heute im Krieg gegen Russland kämpfen und bereit sind zu sterben.
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