Er geht erst mit 77 in Rente – im nächsten Jahr. Bei seinem letzten SWR Aktuell-Sommerinterview fordert Kretschmann eine größere Kraftanstrengung, um BW wieder nach vorne zu bringen.
Angesichts der Wirtschaftskrise und der schwierigen Lage der Autoindustrie hat BW-Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Menschen aufgefordert, sich mehr anzustrengen und mehr zu arbeiten. Im SWR Aktuell-Sommerinterview sagte der Grünen-Politiker am Freitag: „Wenn etwa die Chinesen jetzt einfach besser geworden sind und uns auf Augenhöhe angreifen und mehr arbeiten wie wir, dann ist ja klar, es muss ein Ruck durch diese Gesellschaft gehen. In dieser Delle muss man zupacken und ranklotzen.“
Kretschmann stützt Merz: Mehr und intelligenter arbeiten
Der 77-jährige Regierungschef unterstützt mit seinem Appell die Haltung von Kanzler Friedrich Merz (CDU). Der hatte vor kurzem eine „gewaltige Kraftanstrengung“ gefordert, um das Land wieder wettbewerbsfähiger zu machen. Es sei nötig, „wieder mehr und vor allem effizienter“ zu arbeiten. Kretschmann stellte klar, es gehe nicht nur um „schaffen, schaffen, schaffen. Wir müssen intelligent mehr arbeiten, natürlich nur die, die es können.“ Wer Kinder erziehen muss oder Angehörige pflegt, gehöre da nicht dazu. Auch Menschen, die „verschafft“ seien, sei Mehrarbeit nicht zuzumuten.
Baden-Württemberg
Es war ein Hit in den Achtzigern: „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.“ Damals war es ironisch gemeint. Heute ist „Mehrarbeit“ wieder ein politischer Hit, den aber manche Expertin nicht mehr hören kann.
Kretschmann untermauerte seine Forderung nach Mehrarbeit mit dem Satz: „Wir haben die geringste Jahresarbeitszeit aller Industrienationen.“ Diese Einschätzung ist in der Wirtschaftsforschung allerdings hoch umstritten.
Analyse von Kretschmann-Aussage: Stimmt das?
Aussage: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat die Deutschen zu Mehrarbeit aufgefordert und behauptet: „Wir haben die geringste Jahresarbeitszeit aller Industrienationen.“ Stimmt das?
Die Frage, ob die Deutschen zu wenig arbeiten, war auch schon im Bundestagswahlkampf Thema. Vor allem die Union betonte immer wieder, in anderen Industrieländern werde deutlich mehr geschafft.
Eine neue Auswertung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) von Mitte Mai stützt diese These auf den ersten Blick. Demnach arbeiteten die Deutschen deutlich weniger Stunden als die Bewohner der meisten anderen Wirtschaftsnationen. Quelle ist eine Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 2023.
Dass die Deutschen die „geringste Jahresarbeitszeit aller Industrienationen“ haben – wie Kretschmann behauptet – stimmt laut der IW-Studie nicht ganz. Deutschland liegt im Vergleich aller OECD-Länder auf dem drittletzten Platz. In Frankreich und Belgien wurden demnach noch weniger Arbeitsstunden geleistet.
Andere Forscher halten aber selbst diesen Befund für äußerst zweifelhaft. Die führende Arbeitsforscherin Katharina Hölzle erklärte jüngst im SWR-Videopodcast „Zur Sache! Intensiv“, dass bei internationalen Ranglisten die hohe Teilzeitquote in Deutschland oft falsch gewichtet und dadurch das Ranking verfälscht werde. Eigentlich stehe Deutschland im Mittelfeld, sagte Hölzle, die das renommierte Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart leitet. Sie findet, es müsse darum gehen, „dass wir intelligenter und besser arbeiten und nicht einfach nur mehr“.
Auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen hat schon mehrfach über den aus seiner Sicht irreführenden „Mythos von den faulen Deutschen“ geschrieben. In einer Veröffentlichung von 2023 heißt es: „Bei der Berechnung des Durchschnitts zählt ein Erwerbstätiger in Vollzeit genauso viel wie einer, der nur 15 Wochenstunden arbeitet. Die Zahlen sind deshalb nicht für Ländervergleiche geeignet, worauf die OECD auch deutlich hinweist.“ In einer Aktualisierung des Artikels von Mai 2025 schreiben die Forscher: „Nicht Faulheit, sondern strukturelle Hürden bremsen unsere Produktivität.“ Um diese zu steigern, müssten mehr Daten, KI- und Statistik-Kompetenzen aufgebaut werden. Diese seien in einer zunehmend von Digitalisierung und Daten geprägten Wirtschaft unerlässlich.
Grünen-Regierungschef sieht BW-Wirtschaft in der Zange
Der Ministerpräsident, der im Frühjahr nach der Landtagswahl abtreten wird, betonte, „dass die Zeiten härter und schwieriger werden, dass die Herausforderungen größer werden. Wir sehen es zum Beispiel an der Automobilindustrie, die steht schwer unter Druck. Die Chinesen haben technologisch aufgeholt und greifen uns an, wenn auch nicht immer fair.“ US-Präsident Donald Trump belege die deutsche Industrie mit „gigantischen Zöllen“. Die Wirtschaft sei in einer „Zangensituation“.
Kretschmann zeigte sich ebenfalls besorgt wegen der angekündigten Stellenstreichungen in der Autobranche. „Die Unruhe ist verständlich.“ Wie die Industrie aus dieser schwierigen Lage wieder herauskommt, könne er nicht voraussagen. Klar sei nur, dass die Branche erstmal schrumpfen werde. Baden-Württemberg müsse in dieser Lage auf seine Stärken bauen: „Kreativ sein, innovativ sein, an der Spitze des Fortschritts sozusagen stehen.“ Die Autoindustrie hole momentan technologisch auf.
Kretschmann sieht BW-Geschäftsmodell beim Export bedroht
Ihm sei bewusst, dass das Geschäftsmodell Baden-Württembergs als größte Exportregion Europas, immer mehr unter Druck gerate. Politisch könne die grün-schwarze Landesregierung dafür sorgen, „dass wir als Innovationsstandort ebenfalls spitze sind. Wir sind auf der Höhe von Kalifornien und Massachusetts. Also unsere Innovationskraft ist ungebrochen“, zeigte sich Kretschmann überzeugt. „Darin liegt die Chance, doch wieder an die Spitze zu kommen. Aber ob das im gleichen Volumen geschieht, das muss man mal infrage stellen. Das ist einfach vielleicht nicht mehr gewährleistet.“ Wichtig sei, neue Märkte zu erschließen, etwa in Indien.
Analyse von Kretschmann-Aussage: Stimmt das?
Aussage: Kretschmann hält BW als Innovationsstandort weiterhin für spitze. Im Sommerinterview behauptete er: „Wir sind auf der Höhe von Kalifornien und Massachusetts. Also unsere Innovationskraft ist ungebrochen.“ Stimmt das?
BW ist traditionell das Land der Tüftler, zahlreiche Innovationen kamen aus dem Ländle. Doch in der Transformation der Wirtschaft gibt es immer wieder Zweifel, das BW seinen Spitzenplatz halten kann.
Die jüngste Studie, bei der weltweite Regionen beim Thema Innovation verglichen wurden, stammt aus dem September 2023, ist also nicht ganz aktuell. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln kam damals gemeinsam mit sechs weiteren internationalen Forschungsinstituten zu folgendem Ergebnis: Baden-Württemberg liege auf dem dritten Platz – knapp hinter Massachusetts und Kalifornien, das für seine vielen Tech-Firmen bekannt ist. Kretschmanns Aussage, BW liege „auf Höhe von Kalifornien und Massachusetts“ ist also ein wenig übertrieben und womöglich nicht mehr ganz aktuell.
Baden-Württemberg punktete laut IW mit einer recht hohen Zahl von qualifizierten Zuwanderern, einer starken Industrie und solide hohen Exportraten. Zudem investiere man hier besonders stark in Forschung und Entwicklung. Allerdings: Einige Länder, die als besonders innovativ gelten, wurden in der Studie nicht berücksichtigt. Vorreiter in Sachen Innovation sind laut „Global Innovation Index“ zum Beispiel Länder wie die Schweiz, Großbritannien, Südkorea und Singapur. In der Studie des IW wurden 121 Regionen in sieben Ländern untersucht: In den USA, Schweden, Polen, Italien, Ungarn, Österreich und Deutschland. Dabei wurden unter anderem die Zahl der Gründungen, Ausgaben für Forschung und Entwicklung und die Anmeldung von Patenten berücksichtigt.
Nach dem „Global Innovation Index“ von 2024 ist die Schweiz das innovativste Land, gefolgt von Schweden und den Vereinigten Staaten. Deutschland belegt demnach Rang 9.
Grünen-Politiker über Antriebe: Wir sind da technologieoffen
Kretschmann ist trotz der Anforderungen des Klimaschutzes dafür, den Autoherstellern keine zu strengen Vorgaben zu machen. Zu dem für 2035 von der EU geplanten Verbrenner-Aus für neue Autos sagte er: „Es schaltet niemand den Verbrenner gleich ab. Sondern wir schauen, dass wir schrittweise in eine klimaneutrale Antriebsform kommen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, für den Pkw wird es wohl die Batterieelektrik sein. Wir sind da technologieoffen.“
SWR-Sommerinterview auf dem Stuttgarter Fernsehturm: Moderatorin Stephanie Haiber im Gespräch mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann
Kretschmann will Grün-Schwarz bis zum Schluss zusammenhalten
Obwohl der Ton in der Koalition aus Grünen und CDU zuletzt deutlich rauer geworden ist, hält Kretschmann das Bündnis weiter für stabil. „In den meisten Feldern sind wir gar nicht irgendwie zerstritten.“ Es gebe immer wieder einzelne Dinge, „da reibt man sich immer wieder“. Aber Grüne und CDU seien nun mal zwei verschiedene Parteien, da gehöre Streit zur Demokratie. „Wichtig ist, dass man sich nicht zerstreitet und am Ende wieder zusammenfindet, gute Kompromisse macht. Dafür sorge ich, soweit es in meiner Macht steht.“
Ihm sei aber auch klar, dass man im Wahlkampf vor der Landtagswahl am 8. März stärker auf Distanz gehen werde. „Aber: Ich kann es nicht einfach auslaufen lassen. Dafür sind die Probleme viel zu hart. Wenn ich an die Lage der Kommunen denke, stehen wir noch vor großen Herausforderungen im letzten Jahr. Deswegen werde ich alles dafür tun, dass die Koalition wirklich bis zum letzten Tag arbeitsfähig ist und ihre Aufgaben wahrnimmt.“
Länger im Amt als Teufel: „Das berührt mich schon“
Kretschmann, der am 8. August der am längsten amtierende Ministerpräsident von Baden-Württemberg sein wird, zeigte sich erfreut darüber, dass er drei Wahlperioden regieren konnte. Ihm sei es nicht wichtig, dass er damit länger im Amt sei als „mein geschätzter Vorgänger Erwin Teufel“ von der CDU. Zwar sei seine erste Wahl auch eine Folge der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima gewesen, aber danach hätten die Menschen in BW ihm bei zwei Wahlen nochmal ihr Vertrauen geschenkt. „Das berührt mich schon.“