Seit 35 Jahren bin ich Journalist. Immer wenn ich glaube, schon alles im Job erlebt zu haben, biegt ein Bus um die Ecke. Am vergangenen Sonntag war es wieder so weit: Der „Adenauer SRP+“ parkte am Ufer der Spree und öffnete seine Lautsprechertore, aus denen es ohrenbetäubend „Scheiß AfD“ schallte. Und zwar mitten in der Aufzeichnung des Sommerinterviews der ARD mit Alice Weidel. Wenn ich mein Geld als Satiriker verdienen müsste, würde ich mich vor Verzweiflung in meinen gespitzten Bleistift stürzen – denn die Realität macht mich arbeitslos. Wer sich die absurden Vorgänge des Sonntags ausgedacht hätte, wäre als grottenschlechter Kabarettist von der Bühne gebuht worden.
Die ARD will die Chefin der größten Oppositionspartei des Landes interviewen und versagt auf ganzer Linie. Stattdessen lässt sich das größte öffentlich-rechtliche Medienhaus der Welt von 30 „Omas gegen rechts“ am Nasenring durch die Manege führen. Hier aus meiner Sicht die zehn Verlierer und die Gewinnerin des „Fernseh-Moments des Jahres“, wie ihn der Initiator der Stör-Aktion, Philipp Ruch vom Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), nannte: 1. Die ARD. Heimlich mag man sich in der ARD freuen, dass das vor sich hinsiechende Format Sommerinterview wieder in aller Munde ist. Nur eine Million Zuschauer wollten zwei Wochen zuvor Kanzler Merz an gleicher Stelle hören. Nun waren es bei Weidel eine halbe Million Zuschauer mehr.
Moderator Markus Preiß machte keine gute Figur beim Interview mit der AfD-Chefin Weidel.Jörg Carstensen/dpa
Doch: Nun hagelt es seit ein paar Tagen Prügel. Warum der Chef vom Dienst das Interview nicht abgebrochen hat, bleibt sein Geheimnis. Es sind nur 200 Meter Luftlinie vom Ort der Aufzeichnung bis zum ARD-Hauptstadtstudio. Dort steht das Studio als Schlechtwetter-Variante immer bereit. Den schwarzen Peter schiebt die ARD nun der AfD-Chefin zu – sie habe das Interview nicht abbrechen wollen. Das mag sein. Doch wer hat hier die Hosen an? Weidel ist Gast und die ARD der Gastgeber. Hätte Preiß gesagt: „Wir ziehen jetzt um“, wäre Weidel wohl oder übel gefolgt. Eine weitere Variante wäre gewesen, eine Stunde zu warten und das Gespräch dann fortzusetzen.
ARD: „Nachbearbeitung der Aufnahme hätte Wirklichkeit verfälscht“
Denn es war klar, dass der Protest im Innersten des Regierungsviertels nicht lange anhalten kann. Zeitlich wäre das kein Problem gewesen: Das Interview wurde ab 14.30 Uhr aufgezeichnet, aber erst um 18 Uhr ausgestrahlt. Die Live-Übertragung auf Tagesschau24 hätte man problemlos abbrechen und die wenigen Zuschauer vertrösten können. 2. Der Moderator. Markus Preiß ist der Leiter des ARD-Hauptstadtstudios und damit einer der mächtigsten Journalisten des Landes. Das angestaubte Format Sommerinterview hat er entschlackt und seine Sache bisher besser gemacht als seine Vorgängerin Tina Hassel.
Nun der Rückschlag: Während des Gesprächs war Preiß unübersehbar und wiederholt am Grinsen. Weidel unterstellte er inmitten des Lärms: „Frau Weidel sagt gerne mal, dass sie etwas nicht verstanden hat.“ Preiß war auch selten in der Lage, Weidel inhaltlich zu stellen. Schon die offene Eingangsfrage wäre jedem Volontär um die Ohren geflogen: „Warum ist Ihnen Ehrlichkeit in der Politik so wichtig?“ Wie wird die Einstiegsfrage an den Grünenchef Felix Banaszak im Sommerinterview in zwei Wochen lauten? „Wie gefällt Ihnen Berlin?“ Das Gespräch beendete Preiß mit der Frage: „Können Sie uns drei Dinge nennen, die in Deutschland richtig gut laufen?“
Das erinnert mich an meine Schulzeit. Andauernd musste der Sozialismus gelobt werden: „Die DDR, sie lebe hoch, hoch, hoch!“ Aber die CDU greift das Motto bereits auf und ermuntert im Netz, drei Dinge zu nennen, die in Deutschland gut laufen. Eine Aktion, an der sich das Magazin Stern gern beteiligt. Die Antworten „Pünktlichkeit“ und „Deutsche Bahn“ gefallen mir besonders gut. 3. Das ARD-Hauptstadtstudio. Hat ein Mitarbeiter den Demonstranten gesteckt, wann genau die Aufzeichnung startet? Denn die Zeit ist variabel. Da klar war, dass der Bus mitten im Regierungsviertel nicht ewig im Halteverbot stehen kann, war es wichtig, die Zeit genau zu treffen.
Es wäre nicht weit gewesen zu den Räumen des ARD-Hauptstadtstudios.C. Hardt/imago
Auch die Tontechniker sollten sich fragen, ob sie den Beruf verfehlt haben. Sie hätten die Aufzeichnung unterbrechen und die Ansteck-Mikrofone durch Handmikrofone ersetzen müssen, wie es dann für die Fragen der Social-Media-Community im Anschluss auch passierte. Das Interview hätte man zudem so bearbeiten können, dass die Fragen und Antworten besser zu verstehen sind. Das haben User wie Stefan Homburg auf X vorgemacht. Auf Anfrage teilte das ARD-Hauptstadtstudio der Berliner Zeitung mit, warum man das unterlassen hat: „Eine technische Nachbearbeitung der Aufnahme hätte die Wirklichkeit verfälscht.“
Wie kann es sein, dass jede Moderation aus einem ausverkauften Fußballstadion unfallfrei und mit perfektem Ton über die Bühne geht, die #ARD beim #sommerinterview mit Alice Weidel schon wegen 10 Omas gegen Rechts komplett überfordert ist?
— Lord Florian Möller 🇩🇪🏴 (@realflomoeller) July 21, 2025
„Tagesschau“ verharmlost das eigene Vorgehen
Dabei hätte man verbal thematisieren oder auch einblenden können, dass der Ton bearbeitet wurde oder beide Versionen in die Mediathek einstellen können. Denn: Was bringt ein authentisches Gespräch, wenn es keiner versteht? Und wer denkt eigentlich an die Millionen von Schwerhörigen, die unter erschwerten Bedingungen nichts mehr verstehen? 4. Die „Tagesschau“. In Beiträgen in „Tagesschau“, „Tagesthemen“ und auf tagesschau.de wurde das eigene Vorgehen verharmlost, durfte sich Markus Preiß unwidersprochen rechtfertigen: Es sei eben eine „Extremsituation“ gewesen. Kein Wort des Bedauerns.
Gleich zwei Faktencheck-Beiträge wurden veröffentlicht. Überschrift: „Was an den Aussagen von Alice Weidel nicht stimmt“. Faktenchecker Pascal Siggelkow sagte bei tagesschau24: Es sei falsch, Kanzler Merz einen „Lügenkanzler“ zu nennen, da es ja noch früh in der Legislaturperiode sei und er noch viel von dem Versprochenen umsetzen könne. Dann bestätigten die Faktenfinder zwar die Tatsache, dass laut Statistischem Bundesamt 66 Prozent der Bürgergeld-Empfänger entweder Ausländer sind oder einen Migrationshintergrund haben. Weidels Einschätzung, diese würden das „System belasten“ sei aber „zu pauschal“.
Co-Autorin Alice Echtermann kam vor kurzem von Correctiv. 2015 schrieb sie auf ihrem Profil: „Viele Menschen hier, könnten aber noch mehr sein. Bei der Demo gegen Rassismus und AfD in Bremen.“ Meine Lieblings-Zwischenüberschrift im Text lautet: „99,9 Prozent überzeugt von menschengemachtem Klimawandel“. Auch bei den Volkskammerwahlen hatte es bis 1988 immer über 99 Prozent Zustimmung gegeben. 5. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Das Vertrauen in den ÖRR ist laut der Langzeitstudie zum Medienvertrauen der Uni Mainz 2024 mit 61 Prozent auf einen Tiefpunkt gesunken.
Dieses Interview wird den Sinkflug des ÖRR verstärken
Ereignisse wie das Sommerinterview werden den Sinkflug verstärken. Immer mehr Menschen glauben nicht mehr an Zufall. Das ist fatal. Denn der ÖRR erfüllt eine wichtige Rolle in unserer Demokratie. 6. Die Antifa. Das Zentrum für Politische Schönheit feiert sich für seine Aktion. Bereits die erste Aktion der „Künstler“ 2017 war umstritten. Auf dem Nachbar-Grundstück zum Wohnhaus von Björn Höcke hatten sie eine Nachbildung des Shoah-Mahnmals aufgebaut. Das Recht auf Privatsphäre war ihnen egal, auch bei den Kindern der Familie des AfD-Politikers.
Der „Adenauer SRP+“ des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS)Ben Kriemann/imago
Den ehemaligen Mercedes-Gefängnistransporter nun so umzubauen, damit ein umgetextetes Chorlied eines Augsburger Chors aus den 100-Kilowatt-Lautsprechern schallen konnte, dürfte teuer gewesen sein. Schon den Parteitag in Riesa hatte der Bus bewusst verzögert. Spenden für das ZfPS sind beim Finanzamt steuerlich absetzbar. Die „Omas gegen Rechts“ wurden gleich direkt mit Steuergeld gefördert. Sie störten das Interview von Anfang an mit Hupen und Trillerpfeifen, in der Hand einen Regenschirm in Regenbogenfarben und ein Kind.
Ob man sich mit solchen Aktionen langfristig nicht mehr schadet, wird man sehen. 7. Die Polizei. Ein Polizeiwagen steht am Spreeufer, als der Bus vorfährt. Mitten in der Bannmeile im Regierungsviertel. Hier sind Demonstrationen nur in Ausnahmefällen erlaubt. Trotzdem greifen die Polizisten nicht ein. Im Gegenteil: Sie fahren weg. Das lässt den Schluss zu, dass die Aktion bekannt war und toleriert wurde. Denn sonst hätte man eingreifen müssen. Schließlich hätten auch Terroristen mit Sprengstoff im Bus sitzen können – im Herzen des politischen Berlins. Die Polizei verteidigt ihr langes Nicht-Eingreifen damit, dass der Bus „abgeschlossen“ war.
Leitmedien werfen sich schützend vor die ARD
TV-Bilder zeigen aber, dass eine der beiden Türen offen war. Weiter schreibt die Polizei, dass es im Ermessen des örtlichen Polizeiführers liege, eine spontane Demonstration zu genehmigen. Dem widerspricht das Bundesinnenministerium. Für die Zulassung entsprechender Anträge in befriedeten Bezirken sei nur das Bundesministerium des Innern zuständig. Die Polizei hätte also gar keine Genehmigung erteilen dürfen, sondern die Demonstration sofort auflösen müssen. 8. Die Leitmedien. Widersprüche wie diese werden aber nicht durch die etablierten Leitmedien, sondern durch sogenannte Alternativmedien aufgedeckt.
Hunderte Artikel und genauso viele Stunden Meinung werden stattdessen zum Sommerinterview produziert. Dabei müsste jede Redaktion ihren besten Redakteur darauf ansetzen: Gab es eine Kooperation mit der Polizei oder mit der ARD? Fakten, Fakten, Fakten hieß es früher, heute heißt es Meinung, Meinung, Meinung. Die Leitmedien werfen sich stattdessen schützend vor die ARD. Zum Beispiel die stellvertretende Chefredakteurin des Spiegel, Melanie Amann. Auf LinkedIn schreibt sie: „Neuerdings ist der Schuldige in jeder zünftigen politischen Debatte im Zweifel immer die ARD … Dabei haben doch nicht die Journalisten die Protestler bestellt oder gar unterstützt, und sie hätten die Lärmquellen auch nicht selbst ausschalten können.“
Ist derzeit in vielen Talkshows des ÖRR anzutreffen: Melanie Amann.teutopress/imago
Der Blick von Amann auf die ARD ist möglicherweise milde, da sie derzeit in kaum einer Talkshow des ÖRR fehlen darf. Auch Spiegel-Korrespondent Timo Lehmann findet: „Wo sind wir eigentlich angekommen? Deutschland hätte ein riesiges Problem, wenn es solche Proteste nicht mehr gäbe.“ Michael Borgers, Redakteur bei Deutsche Welle, WDR und Deutschlandfunk, schreibt auf Bluesky: „Ich kann nicht mehr aufhören zu lachen.“ Und Georg Restle, Redaktionsleiter des ARD-Magazins „Monitor“, meint: „Verstehe nicht ganz, woher bei Demokraten die Aufregung rührt, dass Bürger und Bürgerinnen am 20. Juli mit Mitteln des zivilen Widerstands dafür sorgen, dass die Anführerin einer rechtsextremen Partei in Deutschland nicht ganz so gut verstanden wird, wie sie es gerne hätte.“
Weidel erkannte schnell, dass ihr die Störung nutzt
Das Datum 20. Juli wird in diesem Zusammenhang oft aufgegriffen. Der Jahrestag des Attentats von 1944 auf Hitler durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg und weitere Verschwörer. Erstaunlich, dass stramme Nazis zu Säulenheiligen der Linken werden konnten. Und welches Datum ist eigentlich nicht belastet in Deutschland? Wären der 27. Januar (Gedenktag an die Shoah), der 30. Januar (Hitlers Machtergreifung), der 20. April (Geburtstag Adolf Hitlers), der 8. Mai (bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht) oder der 1. September (Überfall auf Polen) besser gewesen? 9. Die anderen Parteien. Das dröhnende Schweigen der Vertreter anderer Parteien ist auffällig.
Dabei stelle man sich nur einmal vor, es wäre nicht das Interview von Alice Weidel gestört worden, sondern Demonstranten hätten das Gespräch mit Merz oder Banaszak unmöglich gemacht. Es hätte empörte Wortmeldungen ohne Pause gegeben. 10. Die Demokratie. Einen Meter Luftlinie entfernt voneinander verstehen sich Alice Weidel und Markus Preiß akustisch nicht. So kann kein Interview zustande kommen. Der Austausch von Argumenten, das Grundprinzip der Demokratie, findet nicht statt. Egal, was Dutzende Arbeitsgruppen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, was Intendanten, Chefredakteure oder Medienwissenschaftler zu der Frage sagen, ob man mit der AfD sprechen darf und falls ja wie – 30 Omas und zwei „Künstler“ beantworten die Frage undemokratisch auf ihre Art und bestimmen den Diskurs eines 84-Millionen-Einwohner-Landes ohne Debatte maßgeblich mit.
11. Eine Gewinnerin. Alice Weidel hat schnell erkannt, dass die Proteste ihr mehr nutzen als schaden. Sie musste kein konfrontatives Verhör mehr fürchten und kann sich nun in der beliebten Opferrolle sonnen. Argumentativ sonst oft unsicher und schwach, zeigte sie hier Nervenstärke und profitiert nun sogar davon, dass selbst Nicht-AfD-Sympathisanten den Umgang mit der Partei geißeln. In einer aktuellen Umfrage von Forsa im Auftrag von RTL steht die Partei inzwischen bei 25 Prozent – gleichauf mit der Union. Sich mit so einer starken politischen Kraft inhaltlich auseinanderzusetzen, wäre dringender denn je.
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