Beate Meinl-Reisinger ist die erste liberale Außenministerin Österreichs. Im Interview erklärt sie, warum es für Russland immer schwerer wird, den Krieg in der Ukraine fortzuführen. An Israel stellt sie im Nahost-Konflikt eine klare Forderung.
N nur vier Stunden hat Beate Meinl-Reisinger geschlafen. Österreichs Außenministerin kam erst spät von Regierungsgesprächen aus Rom zurück – im Billigflieger. Damit sie Zuhause niemanden stört, schlief sie im leeren Bett ihrer Tochter. Seit kurz vor sieben Uhr sitzt die Chefin der liberalen Partei Neos schon wieder im Büro.
WELT AM SONNTAG: Frau Ministerin, was bedeutet Freiheit für Sie?
Beate Meinl-Reisinger: Es geht mir um Freiheit von staatlichem Zwang und um die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Allerdings mit der Einschränkung: Freiheit bedingt auch ein Regelwerk, das dafür Sorge trägt, dass jeder Einzelne auch ein Maximum an Freiheit leben kann.
WAMS: In Amerika gewinnt der Libertarismus an Zustimmung. Was unterscheidet Liberalismus in Europa vom Libertarismus in Amerika?
Meinl-Reisinger: Es wäre möglicherweise erquicklicher für Sie, sich mit Philosophen darüber zu unterhalten.
WAMS: Die Antwort einer liberalen Spitzenpolitikerin ist in diesem Fall aber interessanter.
Meinl-Reisinger: Ich habe Ayn Rand gelesen. Ich verstehe auch viele Grundgedanken des Libertarismus. Ich bin aber keine Libertäre. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das, was wir in Amerika gerade erleben, als libertär bezeichnet werden kann. Das speist sich zwar aus libertärem Gedankengut, wird aber häufig auf unsägliche Weise kombiniert mit einem Tech-getriebenen, teilweise religiös überhöhten oligopolistischen Autoritarismus, der fast schon monarchistische Züge in sich trägt. Andererseits verstehe ich die Kritik von sogenannten Libertären an einem hypertrophen Wokeismus, dieser linken Identitätspolitik, die keine freie Gesellschaft schafft.
WAMS: Es dürfte Sie schmerzen, dass Liberale nur noch drei Regierungen in der EU anführen.
Meinl-Reisinger: Das geht ans Eingemachte. Jetzt ist die Zeit, in der bürgerschaftliches Engagement hochgehalten und eingefordert werden muss. Lethargie, das Einigeln ins Private und der Rückzug ins neue digitale Biedermeier – also die permanente Ablenkung durch digitale Medien, die vor allem diejenigen belohnen, die am lautesten schreien und am radikalsten sind – dürfen sich in liberalen Demokratien nicht noch mehr breitmachen.
WAMS: Macht eine Brandmauer gegen rechts und links Sinn?
Meinl-Reisinger: Es kommt darauf an, wie weit man die Brandmauer zieht. Ich würde Gesetzentwürfe der teilweise rechtsextremen FPÖ in Österreich durchaus unterstützen, wenn ich sie inhaltlich für richtig hielte. Aber ich würde niemals mit dieser Partei koalieren oder sie in der Regierung sehen wollen.
WAMS: Sprechen wir über Außenpolitik. Wird es bald einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg geben?
Meinl-Reisinger: Eines ist klar: Die Ukraine will Frieden, Russland nicht. Falls Putin wirklich an Frieden interessiert wäre, würde er jetzt Waffenstillstandgespräche beginnen. US-Präsident Trump hat Putin die Krim und mehrere östliche Oblaste sozusagen auf dem Silbertablett serviert, zudem noch eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato ausgeschlossen. Und was macht Putin? Er überzieht das Land weiterhin mit einem Vernichtungskrieg.
WAMS: Russland hat an der Front das Momentum.
Meinl-Reisinger: Das Momentum? Da bin ich mir nicht so sicher. Russland erleidet enorme Verluste.
WAMS: Die scheinen Putin egal zu sein.
Meinl-Reisinger: Irgendwann türmen sich die Särge in Russland. Hinzu kommt die desaströse Wirtschaftslage. Es wird immer schwerer für den Kreml, diesen Krieg fortzuführen. Putin weiß, dass ihm die Zeit davonläuft. Darum führt er den Krieg jetzt mit dieser brutalen Intensität.
WAMS: Sie waren kürzlich für mehrere Tage in Nahost unterwegs. Warum?
Meinl-Reisinger: In Wien oder Brüssel zu sitzen und den Konfliktparteien aus der Ferne etwas auszurichten, das reicht nicht. Österreich steht an der Seite Israels. Wir verstehen den Kampf Israels gegen die existenziellen Bedrohungen von außen. Aber wir müssen als Freunde Israels der Regierung in Jerusalem jetzt auch sagen: Wir können die humanitäre Lage in Gaza so nicht mehr hinnehmen. Das humanitäre Völkerrecht in Gaza muss uneingeschränkt eingehalten werden.
WAMS: Österreich fordert zusammen mit mehr als zwei Dutzend Staaten – Deutschland und die USA gehören nicht dazu – ein Ende des Gaza-Kriegs.
Meinl-Reisinger: Ganz wesentlich dafür wäre aber auch die Freilassung der verbliebenen israelischen Geiseln und das Ende der Terrororganisation Hamas. Das Fenster für Frieden in der Region ist jetzt aus unterschiedlichen Gründen offen. Israel sollte diese Chance ergreifen.
WAMS: Der Direktor der Diplomatischen Akademie, Emil Brix, hat vorgeschlagen, über einen Beitritt Österreichs zur Nato nachzudenken. Sind Sie dafür?
Meinl-Reisinger: Klar ist: Neutralität allein schützt uns nicht. Was Österreich vor dem Hintergrund einer zunehmend unsicheren sicherheitspolitischen Lage in der Welt und eines zunehmend aggressiven Russland schützt, sind Investitionen in unsere eigene Verteidigungsfähigkeit, aber auch in Partnerschaften. Ich bin grundsätzlich sehr offen dafür, eine öffentliche Debatte über die sicherheits- und verteidigungspolitische Zukunft Österreichs zu führen. Für einen Beitritt zur Nato gibt es derzeit zwar keine Mehrheiten im Parlament und in der Bevölkerung, aber eine solche Debatte kann trotzdem sehr fruchtbar sein.
WAMS: Es wäre auch eine Debatte über die heilige Kuh der Österreicher, die Neutralität.
Meinl-Reisinger: Es ist nicht so, dass ich mit fliegenden Fahnen in die Nato wollte. Aber wir können uns auch nicht zurücklehnen und sagen: Wenn wir niemandem etwas tun, tut uns auch niemand etwas. Das wäre naiv. Die Welt hat sich verändert. Aber ich möchte ausdrücklich sagen: Wir haben mit der EU bereits einen Partner, der uns im Ernstfall schützt. Zugleich leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Sicherheit. Wir sind mit Soldaten in zahlreichen friedensstiftenden EU-Missionen unterwegs und tun alles, um die gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik finanziell, militärisch und politisch zu unterstützen. Insofern hat sich die Neutralität Österreichs seit dem EU-Beitritt im Jahr 1995 schon spürbar verändert.
Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.