Für die Grünen sind die ostdeutschen Bundesländer kein gutes Pflaster – die Partei dringt nicht durch. Das schlägt sich deutlich in ihren Wahlergebnissen nieder. Dazu gab es insbesondere in der Zeit der Wahlkämpfe im vergangenen Jahr wiederholt Berichte über Anfeindungen und sogar Angriffe, insbesondere auch gegen Mitglieder und Sympathisanten der Partei.
Nun haben sich zwei Kommunalpolitiker der Partei aus Thüringen Hilfe suchend an die Parteiführung in Berlin gewandt.
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In einem eindringlichen, jetzt bekannt gewordenen Schreiben berichten die Kommunalpolitiker Matthias Kaiser und Felix Kalbe aus Gotha, dass der Einsatz für die Grünen Partei vor Ort inzwischen gefährlich geworden sei. Über den Brief, der auf den 16. Juli datiert sein soll, berichtete zuerst der „Spiegel“.
Wir befinden uns in einer akuten körperlichen und mentalen Gefahrenlage.
Matthias Kaiser und Felix Kalbe, Grünen-Politiker aus Gotha
„Dieser Brief an euch ist ein verzweifelter Hilfeschrei, denn: Wir wissen nicht mehr weiter“, schreiben Kaiser und Kalbe dem Grünen-Bundesvorstand und den beiden Co-Parteichefs Franziska Brantner und Felix Banaszak demnach auf drei Seiten.
„Immer mehr Mitglieder ziehen sich aus dem aktiven Parteileben zurück. Immer mehr Mitgliedern fällt auf, dass ,Grün-Sein’ in Thüringen bedeutet, Steine im beruflichen und alltäglichen Handeln in den Weg gelegt zu bekommen. Angst fängt an, sich breitzumachen“, heißt es in dem Brief.
Regierung in Thüringen
In Thüringen regiert seit Dezember vergangenen Jahres unter Ministerpräsident Mario Voigt (CDU) eine sogenannte Brombeerkoalition aus CDU, BSW und SPD.
In der Opposition sind die Linke und die rechtsextreme AfD unter ihrem Landes- und Fraktionschef Björn Höcke. FDP und Grüne flogen bei der Landtagswahl im vergangenen September aus dem Parlament. Die Grünen kamen auf 3,2 Prozent. Stärkste Kraft im Freistaat wurde die AfD mit 32,8 Prozent.
Mitglied der Grünen im ländlichen Thüringen zu sein, „also fernab von Jena-Weimar-Erfurt, ist gefährlich geworden“, so die Verfasser. Bereits seit Jahren nähmen sie wahr, wie „eine ablehnende Haltung umschlägt in abgrundtiefen Hass – und unser Rechtsstaat systemisch immer weiter versagt“, heißt es dem Bericht zufolge in dem Brief weiter.
In den vergangenen Wahlkämpfen des Jahres 2024 sei es „normal“ gewesen, auf offener Straße als Grüner beleidigt oder angespuckt zu werden.
„Fast wöchentlich wurden Hassbotschaften an unsere Bürofenster geklebt. Sprüche wie ,Euch Grüne hängen wir auf’ waren alltäglich“, so die beiden Thüringer Grünen demnach weiter. Sämtliche polizeiliche Ermittlungen seien ins Leere gelaufen, „die Mitteilungen über die Einstellung der Ermittlungen stapeln sich“.
Auch Thüringens Innenminister erhielt alarmierenden Brief
In diesem Jahr sei die Lage „weiter eskaliert und lässt uns inzwischen ratlos dastehen“, zitiert das Magazin aus dem Schreiben. Am 20. Februar, kurz vor der Bundestagswahl, sei ein Anschlag auf ihr Büro verübt worden. In die Fensterfront sei in großen Buchstaben der Satz eingekratzt worden: „Volksverräter tötet euch!“. Der stehe noch immer da, man habe das Glas noch nicht austauschen können.
„Die Suche nach einem Glaser erweist sich als schwieriger als bislang vermutet, denn viele wollen schlichtweg für ein Büro von Bündnis 90/Die Grünen keine Scheibe austauschen“, schreiben die beiden Grünen demnach.
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In der Parteispitze reagierte man am Samstag mit Betroffenheit. „Die Schilderungen unserer beiden Thüringer Kollegen haben mich sehr bewegt, ich nehme das sehr ernst“, sagte Parteichef Felix Banaszak dem Tagesspiegel. Man sei in engem Austausch mit dem Landesverband in Thüringen und stehe solidarisch an dessen Seite. „Die körperliche und mentale Belastung, die sie schildern, ist Ausdruck einer politischen Realität, die alle Demokratinnen alarmieren muss – und die wir nicht hinnehmen“, sagte der Grünen-Politiker weiter.
Die Bedrohung von Kommunalpolitikerinnen und -politikern und ein etwaiger Rückzug sei nicht nur ein Problem für die Grünen. „Es trifft die Demokratie im Kern“, so Banaszak. „Denn wo Ehrenamtliche verstummen, gerät der gesellschaftliche Zusammenhalt ins Wanken.“
Einen offenen Brief mit ähnlichem Wortlaut hatten die Gothaer-Grünenpolitiker am 18. Juli an den Thüringer Innenminister Georg Maier (SPD) veröffentlicht. In den acht Jahren seines Wirkens habe sich die Situation in Thüringen nicht verbessert, schreiben die Grünen darin.„Im Gegenteil. Ihr Präventionssystem versagt auf ganzer Linie.“ Auch Banaszak nahm das Innenministerium in die Pflicht. „Dort liegt die Verantwortung, in den betroffenen Kreisen für Sicherheit zu sorgen“, so der Grünen-Vorsitzende.
Dringende Bitte um Hilfe an Brantner und Banaszak
In dem Brief an die Grünen-Spitze in Berlin zeichnen die beiden Kommunalpolitiker dem Bericht zufolge insgesamt ein düsteres Bild der Lage ihrer Partei vor Ort. Eine Landtagsfraktion gebe es nach der Wahlniederlage von 2024 in Thüringen nicht mehr, die hauptamtliche Infrastruktur sei „verschwindend gering geworden“.
Außer ihnen sei vor Ort niemand, der mit der Bevölkerung ins Gespräch komme und versuche, Ideen und Konzepte der Grünen zu vermitteln. Sie schreiben: „Währenddessen befinden wir uns in einer akuten körperlichen und mentalen Gefahrenlage.“
Eine Handreichung, die kommunale Mandatsträger schützen solle, beinhaltet Empfehlungen und Maßnahmen, „die an der aktuellen Realität vollends vorbeigehen“.
Nach einem Beschluss der Grünen im April, in dem auch neue Ansätze der Partei für den Osten angekündigt worden waren, mahnen die Kommunalpolitiker demnach an, es nicht bei symbolischen Aktionen zu belassen.
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In der Vergangenheit sei von der Bundespartei im Osten „leider auch nicht viel Unterstützung spürbar“ gewesen. Nahezu alle Termine mit „Bundesprominenz“ in den vergangenen Jahren seien abgesagt worden, zum Teil sehr kurzfristig. Beide Kommunalpolitiker fordern mehr „Austausch und Präsenz“. Andernfalls spiele die Partei im Osten gar keine Rolle mehr.
Grünen-Chef Banaszak will das offenbar ändern. Nächste Woche ist er im Rahmen seiner Sommertour in allen ostdeutschen Ländern, auch in Thüringen, unterwegs. „Nicht nur dort, wo Applaus wartet, sondern wo Zweifel, Kritik und Gesprächsbedarf sind“, sagte Banaszak und kündigte an: „Wer hofft, uns einschüchtern oder in die Nische drängen zu können, wird daran scheitern.”