Klarer Wettbewerbsvorteil? Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán beim EU-Gipfel 2019. Bild: Vincent Van Doornick. © European Union 2019 – Quelle: Europäisches Parlament
„Made for Germany“ – Während Konzerne in Deutschland Milliarden versprechen, verlagern sie still ihre Werke nach Ungarn. Eine Analyse der großen Industrie-Migration.
Bekenntnisse mit den Lippen, Abstimmung mit den Füßen? Die Zahnradfabrik Friedrichshafen (ZF) plant einem durchgestochenen Video zufolge, Produktionskapazitäten nach Ungarn zu verlegen.
Die Getriebefertigung soll demnach von der saarländischen Landeshauptstadt Saarbrücken ins ungarische Eger abwandern. Der Saarländische Rundfunk hatte vergangene Woche zuerst darüber berichtet.
Der mutmaßliche Plan des baden-württembergischen Automobilzulieferers, der am Standort Saarbrücken mit rund 9.500 Beschäftigten als einer der größten Arbeitgeber gilt, ist auf erheblichen Widerspruch gestoßen.
Nicht zuletzt, so berichtet das Handelsblatt, auf den Widerspruch von Oberbürgermeister Uwe Conradt (CDU), der gegenüber ZF-Chef Holger Klein beklagte, „unzureichend informiert“ gewesen zu sein.
Auch die Gewerkschaft IG Metall hat ihrer Empörung über die Abkehr vom Standort Deutschland bereits mehrfach Ausdruck verliehen.
Dieser zeichnete sich bereits Ende Juli 2024 ab, als die Zahnradfabrik Friedrichshafen (ZF) bekanntgab, vor dem Hintergrund eines „dramatischen Auftragseinbruchs“ in Saarbrücken bis Ende 2025 1.800 bis 2.100 Stellen abzubauen. In ganz Deutschland drohten bis 2028 bis zu 14.000 Jobs wegzufallen, hieß es damals.
Die ZF ist derweil nicht das erste Unternehmen, das seinen Blick in das ansonsten als „autoritär“ geächtete EU-Land wendet.
Automobilindustrie schielt schon lange nach Ungarn
Die Bayerischen Motorenwerke (BMW) haben 2022 bekanntgegeben, bis Ende 2022 mehr als zwei Milliarden Euro für den Aufbau eines Werks zur Produktion von Elektrofahrzeugen der „Neuen Klasse“ zu investieren.
Am Standort Dingolfing hat BMW im Januar zuletzt die Zeitarbeitsstellen auf 2.000, also um die Hälfte reduziert. Der Abbau von 6.000 weiteren Stellen soll Berichten zufolge durch „natürliche Fluktuation und freiwillige Vereinbarungen“ erfolgen, um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden.
Auch der Stuttgarter Autobauer Mercedes-Benz plant bis 2026, eine Milliarde Euro in die Erweiterung des Werks im ungarischen Kecskemét zu investieren, um dort bis zu 400.000 Fahrzeuge zu produzieren.
Gleichzeitig soll die Produktion in Deutschland um 100.000 Fahrzeuge zurückgeschraubt werden.
Die Ingolstädter von Audi investieren seit Jahren kontinuierlich in Produktionskapazitäten in Ungarn. Audi plant bis Ende 2029, insgesamt rund 7.500 Arbeitsplätze „sozialverträglich abzubauen“, allerdings zunächst in den Bereichen Verwaltung, Vertrieb und Entwicklung. In der Produktion selbst sind demnach keine Kürzungen vorgesehen.
Der ebenfalls in Stuttgart beheimatete Traditionskonzern Bosch hat Anfang 2025 ein Logistik- und Lagerzentrum im ungarischen Miskolc fertiggestellt und im Februar 2025 offiziell eröffnet. Die Investition beläuft sich auf rund 147,6 Millionen Euro.
Parallel dazu hat der Automobilzulieferer im April für den Standort Leinfelden-Echterdingen (Nähe Stuttgart) angekündigt, bis 2026 die Produktion bestimmter Elektrowerkzeuge zu schließen und diese Fertigung stärker nach Ungarn zu verlagern.
Telepolis hat bereits 2022 die potenziellen Auswirkungen einer Deindustrialisierung auf die Automobilzulieferer „im Süden Deutschlands“ in den Blick genommen.
Das Schreckgespenst, welches damals gar in Zusammenhang mit russischer Desinformation gestellt wurde, scheint nun immer mehr körperliche Gestalt anzunehmen.
Das Branchenportal Ingenieur.de hat im Mai dieses Jahres festgehalten, dass die Folgen einer aus Sicht der Verfasserin nicht mehr zu bestreitenden Entwicklung weit über bloße Stellenkürzungen hinaus gehen könnten:
Dass an einzelnen Standorten von den großen Konzernen durch die Verlagerung der Produktionen ins Ausland viele Arbeitsplätze verloren gehen, ist nicht wegzudiskutieren.
Aber auch kleinere Unternehmen können die steigende Preise nicht mehr stemmen, so dass man auch da eine Pleitewelle zu befürchten hat, was dramatische Auswirkungen für viele deutsche Städte mit sich bringt.
Mit anderen Worten: Ein Domino-Effekt der Energie-Krise könnte immer weitere Branchen lahmlegen.
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Warum Ungarn?
Die deutsche Industrie- und Handelskammer (IHK) hat erst im Juni von einem „Investitionsboom“ durch eine „Wirtschaft First-Politik“ in Ungarn geschrieben.
Auf dem Ländersommerabend Ungarn in Osnabrück wird die Geschäftsführende Vorsitzende der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer in Budapest, Barbara Zollmann, bezüglich der Standortvorteile in Ungarn folgendermaßen zitiert:
„Gerade für produzierende Unternehmen ist Ungarn ein starker Auslandsstandort“, so Zollmann. Vorteile seien etwa qualifizierte Mitarbeiter zu wettbewerbsfähigen Kosten, eine vielfältige Hochschullandschaft, niedrige Steuern, eine gut ausgebaute Infrastruktur und eine umfassende Zulieferlandschaft. Vor allem aber sei die Wirtschaftspolitik auf die Förderung von ausländischen Investitionen insbesondere im produzierenden Sektor ausgerichtet.
Den Wettbewerbsvorteil gegenüber dem heimischen Standort fasste der Hauptgeschäftsführer der IHK, Marko Graf, folgendermaßen zusammen:
In Deutschland wird Investoren leider viel zu selten der sprichwörtliche rote Teppich ausgerollt und spätestens in der Umsetzungsphase werden die Unternehmen von der deutschen Bürokratie eingeholt. Es ist deshalb gut, dass die neue Bundesregierung hier nun zu Veränderungen bereit ist.
Marko Graf, Hauptgeschäftsführer der IHK
Zwar liegen die Lohnkosten bzw. Gehälter in Ungarn mit durchschnittlich 1.500 (Quelle: Germany Trade & Invest) zu 4.634 Euro (Quelle: Statistisches Bundesamt) deutlich unter dem deutschen Niveau.
Dieser Umstand allein scheint aber die Abwanderung nicht begründen zu können. Denn gleichzeitig sind auch die Lebenshaltungskosten Berichten zufolge um 40 bis 50 Prozent geringer, und spezialisierte Fachkräfte erzielen oftmals überdurchschnittlich hohe Gehälter.
Ein weiterer, möglicherweise entscheidender Aspekt in Bezug auf den „roten Teppich“ ist mit neun zu 15 Prozent niedrigere Körperschaftssteuer. Als EU-Land müssen Unternehmen durch die Abwanderung nach Ungarn außerdem keine Abstriche beim Zugang zum EU-Binnenmarkt machen.
Der Elefant im Raum dürften allerdings die Energiekosten sein.
Laut dem EU-Statistikamt Eurostat hatte Deutschland 2024 mit rund 39 Cent/KWh die höchsten Stromkosten in der gesamten EU, Ungarn mit 10 Cent – einem Viertel davon – die niedrigsten. Gleiches gilt für Gas, mit 8,0851 Euro pro Gigajoule in Ungarn zu 22,3901 Euro/Gigajoule in Deutschland – ein knappes Drittel.
Standortpatriotismus oder Pragmatismus?
Die deutsche Industrie machte zuletzt mit der Initiative „Made for Germany“ von sich reden, in der insgesamt 61 Unternehmen sich mit der gewaltig anmutenden Investitionssumme von 631 Milliarden Euro dem zu verschreiben den Anschein machen, was der frühere Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) einmal „Standortpatriotismus“ getauft hat.
Die beabsichtigte Strahlkraft dieses öffentlichen Bekenntnisses wird allerdings durch zwei Umstände getrübt:
Einer davon ist, dass viele der zugesicherten Investitionen bereits vor dem Bekenntnis geplant waren und daher keinen Vorstoß im engeren Sinne darstellen.
Der andere Aspekt ist aber entscheidender.
Denn unter den unterzeichnenden 61 Unternehmen finden sich auch genau die oben genannten, die offensichtlich der Druckwelle des ungarischen Investitions-Booms folgen. BMW, Mercedes-Benz und Bosch.
Die Frage, die sich dabei aufdrängt, und die zu beantworten unsere geneigten Leser eingeladen sind: Wie passt das zusammen?