Es gibt da diese Diskrepanzen, sie scheinen immer wieder auf an diesem Samstag im Kulturzentrum Trudering. Zum Beispiel diese: Wenn man die Menschen in München frage, wer diese Stadt regiert, sagt Oberbürgermeister Dieter Reiter, dann sei die Antwort in 60 Prozent der Fälle: die SPD. Und das, „obwohl wir nicht mehr die stärkste, auch nicht die zweitstärkste Fraktion sind“.
Seit fünf Jahren müssen sich die Sozialdemokraten mit Platz drei im Stadtrat begnügen. Dass die Antwort oft trotzdem so ausfällt wie oben zitiert, das, so der OB, liege daran, „dass wir Verantwortung übernehmen“. Und dieses „wir“, so viel lässt sich immer wieder heraushören, könnte man auch übersetzen mit „ich“. Ja, sagt Reiter an anderer Stelle, man sei nur noch die drittstärkste Kraft – „aber einer muss es ja machen“. Das Kommunalwahlprogramm, das am Ende des Tages beschlossen wird, haben indes viele gemeinsam gemacht, es ist das Ergebnis eines monatelangen Beteiligungsprozesses.
Für den Oberbürgermeister hat dieser Ort eine besondere Bedeutung. Hier in Trudering hat seine Partei den damaligen Wirtschaftsreferenten am 12. Dezember 2011 zum OB-Kandidaten gekürt. Nervös sei er gewesen, erinnert sich Reiter, und dass ihm kurz vor seiner Rede sein Manuskript mit 30 bis 40 Seiten zu Boden gefallen sei, habe nicht gerade geholfen.
An diesem Samstag regnet es draußen aus Kübeln, drinnen räumt Reiter ein: „Ich war schon lange nicht mehr hier.“ Dass Programmparteitage nicht zu seinen liebsten Wochenendbeschäftigungen gehören, daraus macht er keinen Hehl. Zum OB-Kandidaten wird der OB an diesem Tag noch nicht gekürt; das soll im November folgen. Trotzdem stimmt er die Genossinnen und Genossen schon mal auf den Wahlkampf ein. Eine Dreiviertelstunde lang spricht er weitgehend frei. Seine Schulter-OP ist nun neun Wochen her, er sei fast jeden Tag bei der Physiotherapie, sagt Reiter, damit am 20. September beim Wiesn-Anstich alles klappe.
In der Politik, besonders im Wahlkampf, ist heutzutage oft die Rede vom sogenannten Narrativ. Ist ein Kandidat oder eine Partei nicht erfolgreich, heißt es, ihm oder ihr habe eben eine „Erzählung“ gefehlt. Der Münchner SPD mangelt es nicht an einer Erzählung. Im Gegenteil. Man hört sie viele Male an diesem Vormittag, von Reiter und von anderen Rednerinnen: Ohne die SPD wäre München nicht die Stadt, die sie ist. Der wirtschaftliche Erfolg, die Münchner Mischung, die Lebensqualität – alles Ergebnis sozialdemokratischer Politik, so sehen es die Genossen.
Und immer wieder Ratlosigkeit, warum die Wählerinnen und Wähler das nicht würdigen. Immer häufiger erlebe sie, sagt Bürgermeisterin Verena Dietl, dass andere Parteien im Rathaus so täten, als ob sie etwas erfunden hätten – „dabei ist es sozialdemokratische Politik“. OB Reiter hat da eine Strategie, die er den Genossen zum Nachahmen empfiehlt, wenn sie sich in einer „Sinnkrise“ befänden: „Wenn’s mir mal schlecht geht“, sagt er, „geh’ ich immer in ein Alten- und Servicezentrum“. Nirgendwo gebe es mehr Dankbarkeit für sozialdemokratische Politik.
Die große Vision scheint an diesem Tag nicht auf, Reiter sieht sich auch vor einer möglichen dritten Amtszeit als Pragmatiker, der bei den Menschen „einen Stein im Brett“ hat. Was die Münchner wirklich umtreibe: sichere Arbeitsplätze, eine stabile Wirtschaft, bezahlbarer Wohnraum. Und die kleineren Probleme vor der eigenen Haustür.
Nach mehr als fünfstündiger Debatte beschlossen die Genossinnen und Genossen das Kommunalwahlprogamm. (Foto: Catherina Hess)
OB Dieter Reiter war einst Wirtschaftsreferent, wie jetzt sein Nachfolger Christian Scharpf, als er 2011 erstmals zum Oberbürgermeister-Kandidaten der SPD ausgerufen wurde. (Foto: Catherina Hess)
Reiter stichelt gegen den OB-Kandidaten der CSU, Clemens Baumgärtner, der Münchens Baustellen zum großen Wahlkampfthema macht („Bei über 12 000 Baustellen in der Stadt müsste er 35 pro Tag besuchen“). Er ärgert sich über die Linke im Stadtrat („Wir lassen uns die Kernkompetenz beim Thema Wohnen und Mieten nicht aus der Hand nehmen“). Und er prangert an, dass der Freistaat die Stadt oft im Regen stehen lasse. Beim geförderten Wohnungsbau etwa brauche es ein „deutliches Umsteuern“.
Die Stimmung im Saal ist gut, obwohl die nächste Amtsperiode stark von der Frage gekennzeichnet sein wird, was sich die Stadt überhaupt noch leisten kann. Manchen ist es zu viel des Konsenses. Sie wolle nicht in einen Wahlkampf gehen, der ein „Weiter so“ transportiert, sagt Paula Gundi, Vorsitzende der Münchner Jusos; es brauche eine Kampagne, die klarmacht: „In München, da geht noch was.“
Das Kommunalwahlprogramm wird am Ende nach mehr als fünfstündiger Debatte einstimmig beschlossen. Zu den konkreten Forderungen gehören Verbesserungen beim städtischen Kitafinder, sozial gestaffelte Eintrittspreise und Teilnahmegebühren bei den städtischen Angeboten. Die SPD will die Nutzung der Mietpreisbremse stärken und entschlossener gegen die Verdrängung von Gewerbe, Handwerk und kleinen sowie mittleren produzierenden Unternehmen vorgehen. Zudem will sie das Azubiwerk mit mehr Wohneinheiten stärken, zum Beispiel mit einer Überbauung des Busbahnhofs an der Studentenstadt.