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Monatelang haben sie nur das Meer und sich. © Imago Images
Paul Lynchs fiebriger, gespenstischer Roman „Jenseits der See“.
Sag mir, Hector, was ist ein Sturm? Ein bisschen Wind, mehr nicht.“ Der Fischer Bolivar ist ein alter Hase in seinem Beruf, ein großer, kräftiger Mann dazu, mit robustem Selbstbewusstsein. „Mir ist noch kein Sturm begegnet, der mich unterkriegt.“ Er nimmt die Wetterwarnung auf die leichte Schulter, anders als seine Kollegen, er überredet außerdem einen unerfahrenen jungen Mann, eben jenen Hector, mit ihm rauszufahren. Er ist auch bereit, ihm mehr zu zahlen. Man weiß, es wird nicht gutgehen, nicht nur, weil auf eine Meckerei Bolivars – was für ein Blödsinn dieser Idiot da singt, brummelt er – seine Bekannte Rosa sagt: „Diese Lieder singt man für die Knochen der Toten.“
Der 1977 im irischen Limerick geborene, in Dublin lebende Paul Lynch erhielt 2023 für seinen dystopischen Roman „Prophet Song“ (dt. „Das Lied des Propheten“, Klett-Cotta) über das Abrutschen eines Landes in die Diktatur (man muss ein zukünftiges Irland dahinter vermuten, Menschen fliehen von da nach Großbritannien) den Booker Prize, die wichtigsten Auszeichnung englischsprachiger Literatur.
„Beyond the Sea“ erschien im Original bereits 2019, abgesehen von einigen Seiten zu Anfang spielt dieser Roman nur auf See, in einem Panga-Boot, in dem Bolivar und Hector zu überleben versuchen.
Denn der von Bolivar gering geschätzte Sturm wird zum gewaltigen Unwetter, „das Meer wogt in die falsche Richtung“, stellt der Fischer, dann doch Übles ahnend, fest. Zwei Tage lang liegen er und Hector, damit sie nicht von Deck gefegt werden, im Kühlkasten des Pangas. Und stehen es durch. Doch nach dem Sturm ist der Motor des Boots hinüber. Und die Handys der beiden haben keinen Saft mehr, klar, Empfang hätten sie wohl auch nicht.
Wieder gibt sich Bolivar lässig. Die anderen, die Fischer, die Freunde werden nach ihnen suchen, versichert er Hector. Sie werden suchen und uns bald finden, keine Sorge. Schlimmstenfalls müssen sie ein paar Tage aushalten. Sie teilen sich ihren Proviant und ihr Wasser ein.
Die Tage vergehen. Hector ritzt Striche in die Bootswand, denn sind sie nicht Gefangene? Bolivar, den Hector „Porkey“ nennt, reagiert wütend darauf. Und noch wütender, wenn Hector sich seiner Meinung nach gehen lässt, rohe Meeresschildkröte, rohen Seevogel zu eklig zum Essen findet. Noch haben sie ein Netz, Hector tanzt, als sie damit einen Thunfisch fangen. Noch haben sie ein Messer, als das verloren geht – mag man sich gar nicht vorstellen, was Bolivar mit den Tieren macht. Paul Lynch geht nicht allzu sehr ins blutige Detail, zum Glück.
Manchmal sehen sie in der Ferne ein Schiff. Aber die Hoffnung stirbt schnell. Es folgen „Tage wie Nächte uralten Regens“.
Ist das noch ein Leben?
Hector wird schwächer, dünner, hohläugig, springt ins Meer, verzweifelt, Bolivar muss ihn wieder rausziehen, auf ihn einreden, nicht aufzugeben, immer wieder. „Man isst, man schläft und vollführt einfache Aufgaben. Jetzt leben wir wirklich.“
Paul Lynch lässt Dialoge und Gedanken ineinanderfließen, so dass man oft nicht sicher sein kann, was die beiden Männer ausgesprochen haben, was sie geträumt oder halluziniert haben. Oder vielmehr, was gegen Ende des Buches Bolivar halluziniert, denn da ist Hector mit den „schwarzen Kieselaugen“ schon verhungert, verdurstet – er hat sich zuletzt geweigert, noch etwas zu sich zu nehmen.
Das Buch
Paul Lynch: Jenseits der See. Roman. A. d. Engl. von Eike Schönfeld. Klett-Cotta, München 2025. 184 Seiten,
22 Euro.
Wütend kippt Bolivar ihn ins Meer, der nur noch Haut und Knochen und ausgepickte Augen ist. „Du bist allein“, sagt Bolivar sich. Und doch sieht er Hector wieder im Boot sitzen. „Hectors Körper bewegt sich, als schwebe er im Dunkeln.“ Bolivar rechtet mit ihm, rechtet mit sich selbst und seiner Schuld. Denn ist er nicht schuld, dass der junge Mann kein Leben mehr hat?
Wie es sich anfühlen könnte, was der (verwirrte) Geist mit einem machen könnte, wenn man monatelang nur sich selbst hat, nur die bewegte Meeresfläche und das sich verändernde Wetter, nur das Licht und die komplette Finsternis, das erzählt Paul Lynch in diesem Roman. „Sein Geist wird von der Krankheit im Körper verdreht“, beobachtet Bolivar bei Hector.
Lynchs Vater arbeitete für die irische Küstenwache, so könnte er zu diesem Thema gekommen sein. Draußen und allein legt Bolivar sich selbst gegenüber Zeugnis ab, erkennt sein Versagen gegenüber seiner Tochter, hört Hectors Gespenst mit Hectors Stimme sagen: „Weißt du, Porkey, du hast kein anderes Herz berührt.“