Berlin – Wir wohnten Tür an Tür mit einer Familie aus Israel. Er war fast 20 Jahre in Berlin, sie nicht ganz so lange. Die Kinder sind hier geboren. Jetzt sind sie alle weg, die Wohnung steht leer.

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Vor der Abreise frage ich: Wohin gehen Sie? „Nach Tel Aviv.“ Warum? „Wir leben nicht mehr unbehelligt in Berlin, wir fühlen uns nicht sicher“, sagt er. Was ist geschehen? Er: „Ich erzähle Ihnen acht von 100 Geschichten, damit Sie wissen, was ich meine.“

Erstens: Wir bestellten bei Flink. Der Auslieferer sieht die Mesusa (jüdisches Schutzzeichen) an unserer Tür. „Er ruft: Haut ab, ihr Juden!“ Er wirft mir die Kartons an den Kopf und geht.

Zweitens: „Unsere kleinen Kinder werden in der Schule regelmäßig von arabischen und iranischen Schülern belästigt und bedroht. Sie beschimpfen meinen Sohn: „Du gehörst hier nicht hin, du bist ein Jude!“

Drittens: Fast alle Uber-Fahrer fragen mich, wo ich herkomme. Einmal sagte ich: „Israel“. Da hielt der Wagen an und ich sollte aussteigen.

► Viertens: Wenn wir als Familie unterwegs sind, sprechen wir kein Hebräisch mehr, denn wir wurden deshalb schon angegangen. Die Kinder haben gelernt, ihre Identität in der Öffentlichkeit zu verleugnen.

Fünftens: Meine Frau meidet die öffentlichen Verkehrsmittel, aus genau denselben Gründen.

► Sechstens: Mein Büro wurde mehrfach aufgebrochen, die Wände beschmiert mit „Free Palestine“ und „Juden raus“.

► Siebtens: Wenn ich einen Antrag im Bezirksamt stelle, wird alles verzögert, sobald klar wird, wer ich bin.

► Achtens: „In Neukölln sagte mir ein Araber: ‚Verschwindet lieber jetzt, in 20 Jahren gehört hier alles uns.‘“

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Meine Nachbarn lebten unauffällig, zurückhaltend, freundliche Leute, keine Angeber. Sie liebten Berlin, es war die Heimat ihrer Kinder. Ihren Bericht halte ich für glaubwürdig, weil ich viele andere Israelis und Berliner Juden kenne, die Ähnliches berichten. Ein Bekannter zum Beispiel lässt das Taxi eine Straßenecke vor der jüdischen Gemeinde halten, wenn er dorthin geht, damit der Fahrer nicht erfährt, dass er Jude ist.

Einer meiner Freunde besuchte regelmäßig sein italienisches Stammrestaurant. Der Wirt war wie ein Kumpel. Unvermittelt fragte er plötzlich: „Warum tötet ihr die Kinder?“ Da sagte mein Freund: „Ich bin Berliner und deutscher Jude und töte keine Kinder.“ Er verließ das Restaurant und ging nie wieder hin.

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„Berlin war eine internationale, offene Stadt“, sagt mein Nachbar. „Das gilt nicht mehr für uns Juden.“ Nach dem 7. Oktober 2023, so berichtet er, habe sich Misstrauen, Abneigung und Hass wie eine Wand gegen sie aufgebaut. Die palästinensische „Hamas“ richtete das Blutbad in Israel an – und dann gelang es auch noch, die Stimmung gegen Israel und alle Juden zu wenden.

Zum Abschied fragte ich: Aber Tel Aviv ist auch nicht sicher, eben erst hagelte es 12 Tage lang Raketen auf die Stadt. Sie antworten mir: „Doch, dort ist man sicher, denn gegen Raketen hilft der Bunker, aber gegen die Feindschaft, die uns in Berlin entgegenschlägt, gibt es keinen Schutz.“

Hat Gunnar Schupelius recht? Schreiben Sie an: gunnar.schupelius@axelspringer.de