Noah Dejanović wühlt in seinem Rucksack. Er holt eine Spezi hervor. Seine Woche war voll – seitdem er öffentlich über seine Kindheit spricht, hält ihn der Aktivismus abends noch wach: Er beantwortet Mailanfragen, postet auf Instagram, koordiniert Drehtermine. Dejanović nimmt einen Schluck, setzt die Flasche ab und sagt: »Es fühlt sich aber nicht wie Arbeit an.« Dass er so viel für den Kinderschutz tut, liegt daran, dass er selbst als Kind sexuell missbraucht wurde.

Angefangen hat sein Aktivismus im letzten Jahr, als Teil der Social-Media-Kampagne der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung Kerstin Claus. Es folgen Vorträge zum Kinderschutz an der Uni Leipzig (s. S. 24) – und Medienanfragen. »Der Titel als ›Student des Jahres‹ hat dem Ganzen dann den Rest gegeben«, sagt Dejanović. Im Februar zeichnen ihn das Deutsche Studierendenwerk und der Deutsche Hochschulverband für sein Engagement aus. Mittlerweile ist er mit seiner Geschichte in Reportagen, Berichten und Artikeln zu sehen: bei Brisant, im Mittagsmagazin und in großen Tageszeitungen. Auch der Stifterverband des Bundesverdienstkreuzes wird auf ihn aufmerksam und nominiert ihn zum Bürgerfest des Bundespräsidenten.

Erst gestern hatte Dejanović wieder einen großen Fernsehdreh: acht Stunden lang. »Danach saß ich hier im Park und habe erst mal fünf Minuten durchgeheult«, sagt er. Eine bewusste Entscheidung, das alles so öffentlich zu machen, war es nicht. »Mit den Vorträgen habe ich etwas gemacht, das Gehör findet, und ich konnte diese Chance nicht ablehnen, wenn Leute das größer machen wollen.« Eigentlich studiert er Französisch und Politik auf Lehramt. Früher habe er überlegt, selbst in die Politik zu gehen. Das Lehramtsstudium sei dann aber die bessere Entscheidung gewesen – weil er auf diese Weise näher dran ist, wenn Jugendliche politisiert werden. Das Thema Kinderschutz habe dabei keine Rolle gespielt: »Ich dachte, ich kann mehr leisten, wenn ich ganz viele junge Menschen zu kritischem Denken anrege.« Das gelingt ihm bereits in seinem Studium. Mit seinen Vorträgen füllt er inzwischen den Audimax. Als Betroffener von sexuellem Missbrauch hätte er sich damals gewünscht, dass in der Schule jemand bemerkt hätte, was los ist. Mit seinem Aktivismus will Dejanović erreichen, dass Lehrerinnen und Lehrer in Zukunft genau dazu fähig sind.


Wenn das Zuhause nicht mehr sicher ist

Unter seinen Augen links und rechts trägt Dejanović seinen Signature Look: einen kleinen Stern und einen Halbmond mit schwarzem Eyeliner aufgemalt. Er nimmt einen Ring von seinem Finger ab und fummelt daran rum. Vielleicht ist er nervös, aber seine Stimme klingt sanft und geduldig, wenn er von seiner Kindheit erzählt.

Dejanović lebt, bis er drei Jahre alt ist, in einem thüringischen Dorf. Dann trennen sich seine Eltern. Seine Mutter zieht mit ihm in die Stadt, nach Gera. Davon erfährt sein Vater aber erst viel später. »Sie ist mit mir wie untergetaucht«, erzählt der heute 22-Jährige. Aus Erzählungen weiß er, dass sein Vater, bis Dejanović fünf ist, keinen Kontakt zu ihm hat. Als er sechs Jahre ist, erstreitet der Vater sich ein Umgangsrecht im Familiengericht. Dejanović lebt weiterhin bei seiner Mutter, alle zwei Wochen verbringt er ein Wochenende bei seinem Vater. Gewalt von seiner Mutter kennt der Junge nicht, bis er elf Jahre alt ist. Bis dahin richtete sich diese nur gegen seinen Vater und seine Stiefmutter, sagt Dejanović. Woran er sich noch erinnern kann: Alkohol, Übergriffe und Demütigungen durch seine Mutter. Dejanović erzählt weiter, mit ruhiger Stimme, ohne sich auch nur einmal zu verhaspeln, obwohl er Geschichten erzählt, die einen erschaudern lassen. Einmal habe Dejanović seine Mutter dabei erwischt, wie sie sich mit einem fremden Mann einen Löffel erhitzte. Ein andermal war es eine blutige Faust seiner Mutter, die er küssen sollte. Durch das Trauma wurden Erinnerungen des Jungen zerstückelt oder ganz weggepackt. Trotzdem haben sich diese Szenen in sein Gehirn eingebrannt. Wie die, als er eines Abends »nur eine Milchschnitte« aus der Küche holen wollte und ihn seine Mutter ins Schlafzimmer rief, damit er mit ihr einen Porno guckte. Er fühle sich mittlerweile abgehärtet, davon zu erzählen – weil er es so oft tut. Der Student nippt an seiner Spezi.

Immer wenn Dejanović von seinem Vater zurück zu seiner Mutter muss, schlägt seine Stimmung um. Sein Vater erinnere sich daran, dass Dejanović während der Autofahrten zu seiner Mutter auf einmal nicht mehr gelacht und nicht mehr gesprochen hat. »Mein Vater hat mir Dosen mit Essen mitgegeben, weil er wusste, dass es zu Hause oft nichts mehr gab oder meine Mutter sich nicht darum gekümmert hat«, erzählt er. »Vor allem in den letzten Wochen bei meiner Mutter habe ich mich stark verändert.« Vom Missbrauch erzählt er seinem Vater damals aber erst mal nichts.


In der Verantwortung

Die Schule ist für den Teenager ein sicherer Ort. Dort kann er runterfahren, dort passiert ihm nichts. Dejanović sagt heute aber, dass er selbst erst sehr spät erkannt hat, dass etwas nicht in Ordnung ist. Er habe nicht gelernt, was Grenzen sind, wie man sie zieht, was Missbrauch und Misshandlung überhaupt ist: »Ich wusste nicht, was der Unterschied zwischen normalen Streitereien in der Familie und fucking Misshandlung ist«. Darüber ist der junge Mann heute wütend: In der Schule hätte er lernen müssen, dass es Dinge gibt, die andere nicht mit ihm machen dürfen, und an wen er sich wenden kann. Dejanović möchte seinen Lehrerinnen und Lehrern von damals keinen Vorwurf machen, das wiederholt er immer wieder. Nichtsdestotrotz brauche es besser geschulte Lehrkräfte. Denn es gibt Anzeichen: »Ich war sehr abwesend, ängstlich, zurückgezogen«, erzählt Dejanović. Er sei fast jeden Tag länger in der Schule geblieben, über Wochen. Das hätte eine Lehrkraft bemerken müssen. »Ich hatte das Riesenglück, dass ich eine Parallelwelt bei meinem Papa und meiner Stiefmutter hatte«, sagt Dejanović. Wo er bedingungslose Liebe erfuhr, eine schöne Zeit hatte, wo sich um ihn gekümmert wurde. So habe er den Unterschied verstanden. »Und dann war mein Vater auch noch bereit, mich zu retten«, fährt Dejanović fort. »Andere Kinder, die das nicht haben: Wie sollen die denn bitte schön wissen, dass das nicht normal ist?« Er hätte sich gewünscht, dass ihn jemand von den Erwachsenen in der Schule anspricht. Selbst etwas zu sagen, das sei oft eine zu große Überwindung: »Es ist unglaublich schwer, weil es mit so viel Scham und Schuld verbunden ist«, sagt Dejanović. Er schafft es irgendwann trotzdem.


»Das hätte damals besser laufen müssen«

Nach einem Wochenende bei seinem Vater – Dejanović ist zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt –, ist sein Willen, nicht mehr zur Mutter zurückzukehren, so groß, dass er sich überwindet und seinem Vater erzählt, was in den letzten beiden Monaten zu Hause passiert ist. »Wir haben alles auf einem Zettel aufgeschrieben«, erzählt Dejanović. Seine Eltern fahren mit ihm zur Polizei. Wenn der junge Mann von seinen Eltern spricht, meint er seinen Vater und seine Stiefmutter. Auf der Wache erzählt der Teenager einem Polizisten, was er auf dem Zettel aufgelistet hat. Der Junge bleibt erst mal bei seinem Vater. »Ich hatte die Sachen, die ich anhatte, einmal Wechselklamotten und meinen Laptop dabei – das war alles.« Im Eilverfahren geht die Sache ans Familiengericht, wo Dejanović gegen seine Mutter aussagen muss. Auf dem Weg zur Verhandlung, im Gang vor dem Gerichtssaal, begegnet er ihr. Dort hat sie die Möglichkeit, nach Dejanović zu greifen. »Das war krass intensiv und retraumatisierend«, sagt er. »Ich war so zerrissen, habe sie vermisst und musste damit klarkommen, dass mein ganzes Leben sich verändert und ich weg von ihr muss.« Das hätte damals besser laufen müssen, denkt Dejanović oft. Nach wenigen Tagen geht das Aufenthalts- und Sorgerecht an seinen Vater. »Wir mussten ein komplett neues Leben für mich aufbauen«, erzählt Dejanović. Die fünfte Klasse beendet er noch in der Schule in Gera, danach muss er die Schule wechseln.

Dejanović und seine Mutter haben sich seitdem dreimal wiedergesehen. Zuerst haben sie sich geschrieben und telefoniert. »Getroffen habe ich meine Mutter immer nur in Begleitung, weil ich allein Angst vor ihr hätte«, sagt Dejanović. Das war Teil der Traumatherapie, die er zwei Jahre lang gemacht hat. Zusammen mit der Therapeutin trifft er seine Mutter einmal mit 12, dann mit 15 Jahren. Mit 19 Jahren begleitet ihn sein Freund Tom. Dank der Therapie hat es Dejanović geschafft, Albträume, Ängste, Panikattacken und Suizidgedanken zu besiegen. Als Kind hat er trotzdem Momente, in denen er zu seiner Mutter zurückwill. »Obwohl ich weiß, dass sie etwas Schlechtes getan hat, habe ich eine emotionale Bindung zu ihr. Es ist schwer, sich von diesem Menschen zu lösen«, erzählt Dejanović. Denn er erinnert sich auch an positive Zeiten, zum Beispiel an schöne Urlaube. »Das ist alles noch da und deswegen vermisse ich sie auchmanchmal.« Auch heute muss er immer wieder für sich ausloten, was er fühlt: gefangen zwischen seiner Mutter als Täterin und dem Wissen darum, dass sie selbst leidet. »Sie hat mich auf jeden Fall geliebt und das weiß ich heute auch, aber sie konnte es nicht zeigen, weil sie selbst psychische Probleme hat.«


Keinen Bock auf Voyeurismus

Wer im Kinderschutz aus seiner Betroffenheit spricht, gibt viel Intimes und Privates über sich Preis. Für Noah Dejanović ist es immer noch komisch, sich so vulnerabel zu zeigen. Bestimmte Details findet Dejanović immer noch »krass« zu lesen, wenn sie veröffentlicht werden. Und doch teilt er seine Gewalterfahrungen mit der Öffentlichkeit, »weil es das Verständnis von anderen Menschen erhöht und sensibilisieren kann, was tatsächlich Missbrauch ist«. Er habe schon Kommentare von Fremden bekommen, die ihm vorwerfen, er übertreibe oder dass er sich nicht so anstellen solle. »Ich kann nachvollziehen, dass man wissen möchte: Was ist es denn jetzt? Was hat er erlebt? Aber ich habe keinen Bock, dass so was voyeuristisch dargestellt wird«, sagt Dejanović. Sein Aktivismus helfe ihm auch nicht, zu verarbeiten, im Gegenteil: »Die ganze Zeit darüber zu reden, hält etwas wund, was mich psychisch labiler macht. Aber die Selbstwirksamkeit und dass ich anderen helfe, treibt mich an – ich will nicht, dass sich andere Kinder so fühlen müssen wie ich«, sagt er. »Und ich hatte immer das Bedürfnis, etwas zu tun, das die Welt besser macht.«

Dejanović isst einen Schokomuffin. Es nerve ihn, dass Menschen denken, das sei alles ganz weit weg. »Betroffene sind überall um uns herum«, sagt Dejanović. Deswegen möchte er dem Bundesbetroffenenrat beitreten, einem ehrenamtlichen Gremium, das die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung berät, um auf bundesweiter Ebene mehr Sichtbarkeit für den Kinderschutz zu schaffen. Auf Landesebene gibt es solche Betroffenenräte bisher nur in Thüringen, Rheinland-Pfalz und seit Juni in Hessen. Sein Auswahlgespräch findet drei Tage nach unserem statt. Dass er eine Zusage bekommen hat, berichtet er am Telefon. Was er sich für seine Zukunft wünscht? »Dass ich mein Gesicht in den Medien nicht mehr sehen muss«, weil sich mehr Nicht-Betroffene für Veränderung einsetzen. Was er seinem jüngeren Ich sagen würde, wenn er könnte? Dejanović denkt nach, schluckt: »Du schaffst das und du stehst das durch, auch wenn es echt hart wird. Es werden mal tolle, bessere Zeiten kommen und du wirst mal was Gutes aus dir machen.«

Kontakt zu seiner Mutter hat Dejanović heute nur sehr selten. »Alle drei, vier Monate meldet sie sich und schickt ein Update.« Er nimmt sich dann Tage oder Wochen Zeit, ehe er ihr antwortet, bis er so weit ist.

Menschen können mitfühlen und sie können helfen, aber was verstehen die meisten trotz allem nicht? »Wie sich ein betroffenes Kind in der Situation fühlt«, antwortet Dejanović. Was ihm als Kind passiert ist, habe ihn dauerhaft und unwiderruflich verändert. Er sei ängstlicher, unsicherer und wechselhafter. »Aber nicht alles an mir ist verlorengegangen«, sagt Dejanović und lächelt sanft. »Ich liebe immer noch Ameisen.« In seinem Arbeitszimmer steht ein Formikarium – ein spezielles Terrarium zur Beobachtung und Haltung von Ameisen. Stundenlang kann er den Tieren zusehen, an denen er so mag, dass sie das Wohlergehen des Kollektivs dem des Individuums überordnen.

Laut Amt der Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch (UBSKM) von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, wird sexueller Missbrauch in etwa 90 Prozent der Fälle durch Männer oder männliche Jugendliche ausgeübt. Die Geschichte von Noah Dejanović ist eine besondere, aber kein Einzelfall. Das UBSKM geht davon, dass sexueller Missbrauch durch Frauen seltener entdeckt wird, weil ihnen solche Taten weniger zugetraut werden. Auch die Annahme, dass Menschen, die Kinder oder Jugendliche sexuell missbrauchen, immer psychisch krank sind, sei falsch.