Ex-EU-Kommissar rechnet ab: Der Westen habe sich im Ukrainekrieg verrannt und lasse Ukrainer für seine Interessen sterben, so Günter Verheugen. Er fordert eine neue Sicherheitsordnung „mit Russland“
Wladimir Putin
Foto: Contributor/Getty Images
Günter Verheugen gehört zu jenem Minderheitenflügel der Sozialdemokratie, der die deutsche Ukraine-Politik kritisch betrachtet. Diese parteiinterne Opposition wird auffällig stark von älteren Mitgliedern geprägt, einer Generation, die während des Zweiten Weltkriegs oder kurz danach geboren wurde – und vielleicht schon deshalb weniger geschichtsvergessen agiert als nachfolgende Alterskohorten. Im Vorwort zum gerade erschienenen BuchMit Russland wirbt Verheugen für einen Politikwechsel und eine neue europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands. Mit dem Freitag sprach er über Abrüstung, Gleichberechtigung und mögliche Wege zur Deeskalation.
der Freitag: Herr Verheugen, das Buch, zu dem Sie einen einleitenden Text beig
ber Abrüstung, Gleichberechtigung und mögliche Wege zur Deeskalation. der Freitag: Herr Verheugen, das Buch, zu dem Sie einen einleitenden Text beigetragen und das Sie auch öffentlich vorgestellt haben, trägt den Titel „Mit Russland“. Das ist sehr provokativ formuliert. Denn Politik, Wissenschaft und Medien sind sich weitgehend einig in der gegenteiligen Devise: Ohne Russland …Günter Verheugen: Wir haben seit Beginn des Krieges in der Ukraine so viele falsche Einschätzungen und Prognosen von „Experten“ gehört, dass es mich nicht beeindruckt, wenn diese Experten die Einsicht für falsch halten, dass es im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen keine vernünftige Alternative zum Konzept der unteilbaren Sicherheit gibt. Die Idee des gemeinsamen europäischen Hauses, in dem sich alle europäischen Völker sicher fühlen können, ist sabotiert worden, weil der von den USA geführte Westen eine Vormachtstellung beansprucht und anderen, nicht nur Russland, echte Gleichberechtigung in der Staatengemeinschaft verweigert.Ihre Kernthese lautet: Europa hat sich im Ukrainekrieg verrannt. Warum?Das ist nicht ganz korrekt. Ich habe gesagt, dass sich die EU-Politik beziehungsweise wichtige Mitgliedstaaten verrannt haben. Denn Europa ist sehr viel mehr als die EU. Die Gleichsetzung der Begriffe Europa und EU erfolgt nicht zufällig. Damit wird behauptet, dass bestimmte Länder, speziell Russland und die Türkei, nicht zu Europa gehören. Die EU und die europäischen NATO-Staaten einschließlich Deutschlands wollen, dass in der Ukraine weiter gekämpft wird. Das ist der Sinn der fortgesetzten Waffenlieferungen. Diese Politik hat dazu geführt, dass der Krieg nicht auf dem Verhandlungsweg beendet werden kann, sondern die Entscheidung auf dem Schlachtfeld gesucht wird. Den Preis dafür zahlt die Ukraine.Seit vielen Jahren wurde systematisch das Feindbild Russland aufgebautSie behaupten, der Westen trage eine Mitverantwortung für den russischen Angriff. Wieso? In unserem Buch Der lange Weg zum Krieg haben Petra Erler und ich die einzelnen Schritte und Entscheidungen dokumentiert. Daraus geht eindeutig hervor, dass russische Versuche zu einer gleichberechtigten Partnerschaft regelmäßig scheiterten und der Kalte Krieg in Wahrheit nie zu Ende ging. Seit vielen Jahren wurde systematisch das Feindbild Russland aufgebaut und gilt nun als Rechtfertigung für massive Aufrüstung. Es wäre nicht zu einem Krieg gekommen, wenn wir eine inklusive europäische Sicherheitsordnung geschaffen hätten.Sie waren lange Jahre EU-Kommissar in Brüssel und dort zeitweise zuständig für die Osterweiterung der Europäischen Union. Jetzt kritisieren Sie, dass das mit ihr eng verflochtene Militärbündnis NATO parallel dazu bis an die russische Grenze expandierte. Ist die EU im Rückblick betrachtet indirekt mitverantwortlich für die daraus folgende Eskalation? So ist es nicht gewesen. Als ich 1999 EU-Kommissar für Erweiterung wurde, waren drei wichtige mittel- und osteuropäische Staaten – Polen, Tschechien und Ungarn – bereits Vollmitglieder der NATO. Die EU-Osterweiterung erfolgte im Gegensatz zur NATO-Expansion im Einverständnis mit unserem wichtigsten europäischen Nachbarn Russland. Wo die Russen berechtigte Sorgen hatten, haben wir darüber gesprochen und selbst eine so schwierige Frage wie den Zugang zur russischen Exklave Kaliningrad einvernehmlich lösen können. Die EU-Osterweiterung war ein europäisches Projekt, die NATO-Erweiterung ein amerikanisches. Die Prodi-Kommission, in der ich ab 2002 für die Nachbarschaftspolitik zuständig war, hatte das Konzept, einen Ring von Freunden zu schaffen. Das hieß, dass wir bestmögliche Beziehungen mit allen Nachbarregionen herstellen wollten. Daraus entstand unter anderem die sogenannte Strategische Partnerschaft mit Russland, die bis 2010 auch funktionierte und bewies, dass gesamteuropäische Kooperation von Lissabon bis Wladiwostok möglich ist. Nicht Russland hat die Strategische Partnerschaft zu Grabe getragen. Als die EU dieses Konzept aufgab, begann das geopolitische Tauziehen um die politische Verortung der Ukraine.Ich habe auch nach sorgfältiger Recherche keine belastbaren Hinweise dafür gefunden, dass Russland plant, seine Nachbarn anzugreifenDie mittel- und osteuropäischen Staaten suchten damals nach Sicherheitsgarantien gegen ihren großen östlichen Nachbarn, der sie in der Vergangenheit mehrfach angegriffen oder gar annektiert hat. Eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur stellt sicher, dass kein Land sich selbst oder anderen zur Gefahr wird. Die Charta von Paris und die anschließenden Arbeiten der KSZE und OSZE wiesen in diese Richtung. Aber die von den USA ausgehende Entscheidung, wieder eine militärische Blockgrenze in Europa zu ziehen, hat diesen Weg blockiert. Das ist die fatale Fehlentwicklung, die ab 1994 einsetzte. Mittel- und osteuropäische Staaten haben aufgrund ihrer Geschichte verständlicherweise ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit, diese hätte aber auch im OSZE-Rahmen organisiert werden können.Sie kennen die EU-Strukturen gut. Haben sich die Gewichte seit Ihrer Amtszeit nach Osten verschoben? Vor allem Polen und Balten scheinen die großen westlichen Gründungsmitglieder vor sich herzutreiben. Das drückt sich schon in den Personalien aus: Die derzeitige EU-Außenbeauftragte ist Estin, der Verteidigungskommissar kommt aus Litauen. Reiner Zufall? Tatsächlich sind Polen und die baltischen Staaten die Lautesten in der aktuellen Debatte zu den Absichten von Russland. Ich habe allerdings auch nach sorgfältiger Recherche keine belastbaren Hinweise dafür gefunden, dass Russland plant, seine westlichen Nachbarn irgendwo anzugreifen. Wohl aber habe ich notiert, dass Estland beispielsweise bis 2024 Strom aus Russland bezog, und diese Lieferungen waren stabil. Ich habe auch registriert, dass der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa und Afrika kürzlich sagte, man habe schon alles geplant und vorbereitet, um die Region Kaliningrad einnehmen zu können – diese sei schließlich von der NATO eingekreist. Als was soll man das von russischer Seite empfinden? Umgekehrt: Wenn ich ein kleines Land bin, das eine höchst komplizierte Geschichte mit einem großen Nachbarn hat – was wäre dann die richtige Politik? Es wäre die der Vermittlung und der Verständigung.Sie zitieren in Ihrem Vorwort ein „enthüllendes“ Interview mit dem BND-Präsidenten Bruno Kahl. Der sagte der„Deutschen Welle“, ein früher Friedensschluss ermögliche Russland, eine militärische Drohkulisse gegenüber der NATO aufzubauen. Lautet die versteckte Strategie demnach, ukrainische Soldaten für westliche Interessen bluten zu lassen?Ich halte das nicht für eine versteckte Strategie, sie liegt ganz offen zutage. Wolodymyr Selenskyj hat das übrigens früh erkannt. In einem Interview mit dem Economist vom 27. März 2022 sagte er, dass es Staaten gebe, die den Krieg verlängern wollten, ungeachtet aller Opfer an ukrainischen Menschenleben. Der Kontext damals war, dass Russland und die Ukraine gerade um Frieden verhandelten. Es war dann der Westen in Gestalt des britischen Premiers Boris Johnson, der der Regierung in Kiew im April 2022 klarmachte, dass ein Friedensschluss nicht erwünscht sei. Wenn man US-Medien liest, ist das ohnehin wenig versteckt: Man lässt die Ukraine für die eigenen Interessen kämpfen, um eine Schwächung Russlands zu erreichen – und freut sich darüber, dass es so wenig kostet – und vor allem keine Leben der eigenen Landsleute fordert.Putins Bedingungen werden immer härter, je länger der Krieg dauertUS-Präsident Trump vollzieht in seiner zweiten Amtszeit eine Kehrtwende nach der anderen. Zunächst distanzierte er sich von der Ukraine, inzwischen liefert er dorthin wieder mehr Waffen – für die allerdings die Europäer zahlen sollen. Wie lange dauert der Krieg Ihrer Ansicht nach noch?Das kann ich Ihnen genauso wenig beantworten wie jeder andere auch. Nach meiner Wahrnehmung liegt die Entscheidung darüber in Washington und in Moskau. Aber wenn Washington als Vermittler ausfallen sollte, liegt sie nur in Moskau. Die EU hat sich leider komplett aus dem Spiel genommen. Wer einen stabilen verhandelten Frieden will – und nichts anderes müssen wir suchen –, muss dafür Sorge tragen, dass die Lösung für alle Seiten gesichtswahrend ist.Auch der russische Präsident Putin scheint derzeit nicht allzu interessiert an einem Frieden – wenn dieser nicht nahezu hundertprozentig zu seinen Bedingungen zustande kommt. Was also tun?An der Verhandlungsbereitschaft Putins habe ich keinen Zweifel. Allerdings werden seine Bedingungen, je länger der Krieg dauert, immer härter. Trotzdem sehe ich so etwas wie russische Kernforderungen, und die haben sich gegenüber der Fast-Einigung von Istanbul 2022 nicht verändert. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine oder die Nutzung der Ukraine als militärisches Aufmarschgebiet des Westens ist für Russland inakzeptabel. Sehr problematisch werden die territorialen Fragen. Alles Übrige scheint mir leichter verhandelbar.Wie könnte langfristig betrachtet eine neue europäische Sicherheitsarchitektur „mit Russland“ konkret aussehen?In einem ersten Schritt müssen wir akzeptieren, dass es keine Alternative zu einer ungeteilten inklusiven Sicherheit gibt. Das bedeutet, dass über die militärische Positionierung beider Seiten und über verbindliche Abrüstungsschritte geredet werden muss. Ich halte es für eminent wichtig, nukleare Mittelstreckenraketen wieder vom europäischen Kontinent zu verbannen. Wir brauchen ein erneutes Verbot dieser Waffen, das betrifft auch die Raketenstationierung in Deutschland. Es muss sich zudem auf russische Hyperschallwaffen, die sogenannten Oreschniks, erstrecken. Das löst noch nicht alle Sicherheitsprobleme, würde aber die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ein politischer Rahmen gefunden werden kann, der ähnlich wie in Helsinki 1975 wieder das Prinzip der Koexistenz und der friedlichen Kooperation an die Stelle der Konfrontation setzt.
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