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Schriftsteller Gerhard Henschel feiert im jüngsten Roman die Frauen, und ein bisschen auch Kassel – ein Gastbeitrag von Jürgen Röhling, der an der Universität Kassel lehrt und sich im Literaturhaus Kassel engagiert.

Kein Gegenwartsautor hat sein eigenes Leben so ausführlich in Romanform gegossen wie Gerhard Henschel, der 2023 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor entgegengenommen hat. Sein aktueller „Frauenroman“ (Hoffmann und Campe 2024, 557 Seiten, 28 Euro) ist bereits der elfte Band seiner autofiktionalen Martin-Schlosser-Reihe, die 2004 mit dem „Kindheitsroman“ begann und über den Jugend-, Liebes-, Abenteuer- und Bildungsroman 2018 schließlich den „Erfolgsroman“ erreichte, mit den Zwischenstationen „Kunst“ und „Arbeit“. Nach dem „Schauerroman“ von 2021 folgte zuletzt ein Doppelschlag: „Schelmenroman“ und, endlich, der „Frauenroman“.

Endlich – denn die Frauen sind unübersehbar ein Lieblingsthema Henschels. Eroberungen, Abfuhren, One-Night-Stands und Liebesschwüre, das Martin-Schlosser-Leben ist eine schier endlose Hormontour. Gut, dass es Kassel gibt! Denn da findet ein anderes Leben statt. In Kassel gibt es keine Frauen, in Kassel gibt es Kunst.

Martin Schlosser, oder Gerhard Henschel – es ist kein Geheimnis, dass der Autor bis auf seinen Namen (und gelegentlich die Namen anderer Personen, die nicht mit einer Nennung einverstanden waren) nichts geändert hat. Die Romane speisen sich aus Henschels riesigem Archiv, das historische Fernsehprogramme, Kassenzettel, Briefe, ausgedruckte E-Mails, kurzum alles Mögliche enthält. In Henschels Haus scheint es keinen Papierkorb zu geben, alles wird aufbewahrt, alles gerät zwischen die Buchdeckel und wird Literatur. Ist das feinste Kempowski-Nachfolge? Oder bloße Materialhuberei? Wie auch immer, man erkennt vieles wieder und lässt sich gerne erinnern. Gerade ist Henri Nannen gestorben, der „Stern“-Gründer. Wir schreiben also 1996, auf über 550 Seiten kommt der „Frauenroman“ bis ins Jahr 1998.

Schlosser ist nach Göttingen umgezogen, und für Göttinger liegt Kassel so nahe. Wenn man genug vom kleinstädtischen Fachwerkidyll hat, findet man hier den Kontrast. Kunst! 1995 war die Caricatura-Galerie im Kulturbahnhof eröffnet worden, Henschel immer dabei. 1997 sieht er die Ausstellung „Die komische Kunst“: „Für Rudi Hurzlmeiers Gemälde ,Komposition mit Herrenschuh und Damenhirn‘ hätte ich ein Vermögen gezahlt, wenn ich eins gehabt hätte“, sinniert sein alter ego Schlosser, bevor abends der Versuch gemacht wird, „ganz Kassel auszutrinken“. Letzten Endes vergeblich, aber nahe dran waren die Caricatura-Künstler bestimmt.

Dagegen die documenta! Hier reicht dem Chronisten eine Zusammenfassung der Tagesschau: „Zu den bevorzugten Themen zählen die Globalisierung und die zunehmende Kontaktarmut in der Gesellschaft“. Diese Vorlage nimmt Henschel gerne auf: „War die Menschheit zehn, zwanzig, fünfzig oder zweihundert Jahre früher kontaktfreudiger gewesen?“ Aber Antworten auf solche rhetorischen Fragen sollte man nicht erwarten. Henschel verweigert der documenta sowohl mehr Aufmerksamkeit als auch die markentypische Kleinschreibung, denn Wichtigeres steht an. Schon am nächsten Tag wird der Fernsehmonteur in Göttingen erwartet, dessen Begrüßung „Mich darf niemand anfassen, ich bin schon den ganzen Tag am Rotzen!“ Henschel viel gelungener scheint als documenta-Kontaktfragen in Zeiten der Globalisierung. Das muss man mögen oder zumindest hinnehmen können.

Und Kassel kommt weiter vor. Eine echte Liebe wird es aber nicht. Im Anschluss an eine Lesung, nach der Henschel sich mit Achim Frenz und Andreas Sandmann, den beiden Caricatura-Kuratoren, „verplaudert“ hat (man darf den Einfluss alkoholischer Getränke durchaus vermuten), wird der Weg ins Hotel Kö78 zwar noch gefunden, doch die angegebene Zimmernummer 2 gibt es nicht. In schönster Komödienmanier ist das Schild abgebrochen, vor der 2 war noch etwas, ging es also um Zimmer 12, 22 oder 32? Man müsste maximal drei Schlösser ausprobieren. Doch Schlosser (da hätte doch ein Wortspiel nahegelegen!) ziert sich, ruft nachts um vier eine im rezeptionslosen Hotel aushängende Notfallnummer an und wird von einer Dame mit „Schäferhund-Stimme“ angebellt, er habe das Hotel zu verlassen.

Und bietet nun Henschel/Schlosser all seinen Charme auf, um endlich das ersehnte Hotelzimmer samt Bett zu erreichen? Nein. Er wird „grob“! Womöglich wurde außer dem zitierten Wort „Schweinehotel“ noch Schlimmeres gesagt, doch wir erfahren es nicht. Am Ende konnte sich ein Kasseler Taxifahrer über eine 130-Mark-Tour nach Göttingen freuen, mit Zwischenstopp an einer Tankstelle zum Erwerb einer Trostflasche Weißwein und Zigaretten. Ja, so war sie, Gerhard Henschels Kasseler Zeit. Bloß wieder zurück nach Göttingen!

Kasseler Literaturpreis für Grotesken Humor. Die Preisträger: Gerhard Henschel und Noemi Somalvico. Foto: Sascha Hoffmann2023 als Preisträger in Kassel: Gerhard Henschel – daneben Förderpreisträgerin Noemi Somalvico. © Hoffmann, Sascha