Allein die Vorstellung ist mehr als nur empörend: Der SS-Offizier Walther Rauff beteiligt sich Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs erneut an Folter und an Morden in Chile unter Augusto Pinochet.
Walther Rauff war verantwortlich für die Entwicklung und den Betrieb der Gaswägen im Zweiten Weltkrieg. In den mobilen Vorläufern der Gaskammern verloren zwischen 1941 und 1943 Hunderttausende jüdische und andere KZ-Häftlinge ihr Leben.
Nach 1945 setzte sich Rauff, wie so viele NS-Verbrecher, nach Südamerika ab. Dort tauchte er aber nicht unter, sondern startete eine zweite Karriere als leitender Angestellter einer Konservenfabrik im chilenischen Patagonien. Nach dem Putsch Augusto Pinochets 1973 suchte der ehemalige SS-Offizier die Nähe zur Macht – und fand sie auch.
Diesem bisher kaum untersuchten Lebensabschnitt Rauffs widmet sich der bekannte Menschenrechtsanwalt Philippe Sands in seinem neuen Buch „Die Verschwundenen von Londres 38“.
„Ich stehe hier sozusagen unter Denkmalschutz“
In einer Tonbandaufzeichnung von 1980 meinte Walther Rauff:
“Ich stehe hier sozusagen unter Denkmalschutz (…) Der General Pinochet war vor round about 12 Jahren in Ecuador, wo wir auch waren. Und damals war er x-mal in meinem Haus.“
Acht Jahre lang recherchierte der britisch-französische Bestsellerautor Sands den Fall Rauff. Er sichtete alle schriftlichen Zeugnisse und unterzog sie einer quellenkritischen Überprüfung. Er durchquerte Chile von Süd nach Nord, besuchte ehemalige Folterorte der Pinochet-Diktatur und führte zahlreiche Zeitzeugengespräche, mit Opfern ebenso wie mit ehemaligen Mitarbeitern der chilenischen Geheimpolizei DINA.
Darauf aufbauend entwickelt er eine erdrückende Indizienkette, die Rauffs Verstrickungen in die Machenschaften der DINA aufdeckt. Laut Sands war der glühende Nationalsozialist aktiv in Folterungen, Morde und in das massenhafte Verschwindenlassen von Oppositionellen eingebunden.
„Ich bin ein Engel“
Diese unglaubliche Geschichte, die bis dato lediglich Gegenstand von Vermutungen war, verbindet Sands mit einem zweiten Erzählstrang, nämlich jenem über die aufsehenerregende Verhaftung Pinochets 1998 in London.
Minutiös schildert der Autor das juristische Tauziehen um die Auslieferung des Ex-Diktators, die Spanien von Großbritannien verlangte: Ein komplexer und Neuland betretender Rechtsstreit, der 18 Monate später mit einem umstrittenen ärztlichen Gutachten und der Rücksendung Pinochets nach Chile wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit endete.
Das Flugzeug traf am Dienstag, dem 3. März, in Santiago ein (…).
Den Gehstock zwischen seine Beine geklemmt, wurde er auf eine Hebebühne gerollt und dann langsam zu Boden gelassen. Der Rollstuhl wurde auf das Rollfeld geschoben, wo er stehen blieb. Pinochet, in dunklem Anzug und lila Krawatte, wurde aufgeholfen, er ging ein paar Schritte vorwärts, umarmte General Izurieta, dann lief er winkend und lächelnd zum Flughafengebäude. Die Kapelle spielte, Anhänger jubelten, Pinochet strahlte.
Rauff starb 1984, Pinochet 2006, ohne dass die beiden je für ihre Verbrechen verurteilt worden wären – und ohne die geringsten Anzeichen von Schuldeingeständnis oder gar Reue. Pinochet beteuerte 2003 in einem TV-Interview:
Ich habe niemanden ermordet, und ich gab keine Befehle, irgendjemanden zu ermorden. Ich bin ein Engel.
Hin zum Primat der Menschenrechte
Trotz der skandalösen Straflosigkeit, die die Fälle Rauff und Pinochet verbindet, ist die zentrale Botschaft des Buches keine negative: Die juristische Auseinandersetzung, die mit der Festnahme Pinochets einsetzte, verschob den internationalen Diskurs weg vom Primat der Immunität von Staats- und Regierungschefs hin zum Primat der Menschenrechte.
Die Verschwundenen von Londres 38
Aus dem Englischen von Thomas Betram und Henning Dedekind
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Philippe Sands – Die Verschwundenen von Londres 38. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien
Inspiriert von fiktionalen Werken wie den Erzählungen von Roberto Bolaño legt Sands ein kunstvoll zusammengefügtes Mosaik vor: Lebendig, vielstimmig, voller Spannungsmomente und mit großem Sinn für den menschlichen Faktor im Mahlstrom der Geschichte.
Dass die vertrackten Rechtsdebatten für Laien verständlich und bis zum Schluss interessant bleiben, ist nicht die geringste der erzählerischen Leistungen von Philippe Sands.