Der ICE nach Hamburg fährt am Gleis 4 gerade ab, während der kleine Bautrupp vor dem Bahnhof die große Unterbrechung plant. In oranger Schutzkleidung besprechen die Männer die letzten Schritte, bevor sie am Samstag die Bauarbeiten beginnen.

Ab Freitagabend wird hier in Wittenberge neun Monate kein Zug mehr fahren. In dieser Zeit will die Deutsche Bahn die Strecke von Berlin nach Hamburg generalsanieren. Im Bahnhof Wittenberge, etwa auf halbem Weg, baut der Konzern einen zusätzlichen Bahnsteig.

Der Bahnknoten der Prignitz geht vom Netz

Deshalb legt die Bahn nicht nur die Ost-West-Strecke Berlin-Hamburg still. Auch nach Norden gen Perleberg und Schwerin und nach Süden Richtung Stendal und Magdeburg verkehrt kein Zug. Der Bahnknoten der Prignitz im äußerten Nordwesten von Brandenburg geht vollständig vom Netz.

Von der Industriestadt hat sich Wittenberge zur Pendlerhochburg entwickelt. Doch nun trennt die Bahn das Zentrum der Prignitz neun Monate lang vom Bahnnetz ab.

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An diesem Mittwochmittag kann man sich das kaum vorstellen. Dafür ist viel zu viel los. Kurz nachdem der ICE nach Hamburg beschleunigt, trudelt ein verspäteter ICE nach Berlin ein, während der Regionalexpress in die Hauptstadt an Gleis 5 noch ein paar Minuten auf Fahrgäste wartet.

Schilder weisen im Bahnhof Wittenberge schon auf den Ersatzverkehr hin.

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Ab Samstag fahren hier dann nur noch die lila Ersatzbusse, auf die einige Schilder bereits hinweisen. Ein gleichwertiger Ersatz sind die allerdings kaum. Bisher brauchen die Wittenberger mit dem ICE rund eine Stunde nach Hamburg, nach Berlin sind es 45 Minuten, der Regionalexpress ist in anderthalb Stunden da. Im Ersatzverkehr sind die Menschen künftig in der Regel rund drei Stunden nach Berlin unterwegs.

Wie viele Fahrgäste dieses Angebot wohl nutzen werden? Das fragt sich Vahram Bachdadyan, der den Bahnhofskiosk betreibt. „Es werden sicher weniger Menschen hier vorbeikommen“, sagt der 30-Jährige, während er einige Stammkunden und zwei Fahrradtouristen bedient. Denn nicht alle Ersatzbusse fahren am Bahnhof ab.

Wie viel Leute kommen noch? Der Bahnhofskiosk von Vahram Bachdadyan.

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Bachdadyan rechnet außerdem damit, dass viele Pendler lieber gleich mit dem Auto zum nächsten großen Bahnhof in Stendal fahren und von dort den Zug nehmen. In den ersten Wochen will er an seinem Angebot erstmal trotzdem nichts ändern. Wie jeden Morgen wird er seinen funktional gebauten Verkaufswürfel also um 4.30 Uhr aufsperren. „Bevor der erste Pendlerzug nach Berlin geht, kommen schon die ersten sieben, acht Kunden“, sagt er.

In der Rushhour um sieben Uhr kommt Bachdadyan mit dem Zählen seiner Kunden nicht mehr hinterher. Dann bildet sich vor seinem Kiosk eine lange Schlange.

Bevor die Strecke zwischen Berlin und Hamburg Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, war Wittenberge ein Nest.

Oliver Hermann, Bürgermeister von Wittenberge

Bleibt dieser Ansturm nun aus, darf der 30-Jährige darauf hoffen, dass die Deutsche Bahn seine Pacht reduziert. Aber die neunmonatige Generalsanierung gefährdet nicht nur die Umsätze im Bahnhofskiosk. Sie greift das Geschäftsmodell der ganzen Stadt an.

„Bevor die Strecke zwischen Berlin und Hamburg Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, war Wittenberge ein Nest“, sagt der parteilose Bürgermeister Oliver Hermann. „Danach siedelte sich Industrie an, Wittenberge wurde zur Stadt“, erzählt Hermann.

Leerstand in Brandenburg Die zweite Wende für eine Stadt im Osten

Diese Industrie geriet nach dem Ende der DDR allerdings in die Krise und mit ihr Wittenberge. Von einst 30.000 Einwohnern waren Mitte des vergangenen Jahrzehnts nur noch rund 17.000 geblieben. Hermann wollte dem Schrumpfen nicht mehr länger zusehen.

Er ließ die Gründerzeitbauten aus der Zeit des Eisenbahn-Booms sanieren und setzte erneut voll auf die Bahn: Bei jungen Familien warb er mit den kurzen Fahrzeiten nach Berlin und Hamburg. „Das ist unsere große Chance“, sagt er.

Wittenberge ist für seine Gründerzeithäuser bekannt.

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Heute leben und arbeiten in Wittenberge viele Menschen, die an ein bis zwei Tagen mit dem ICE in ihr Büro in Berlin oder Hamburg fahren. Die Pendler stabilisieren die Stadt. Wittenberge schrumpft nicht mehr.

Doch wie schauen diese Menschen darauf, dass die Bahn ihrem Lebensmodell nun für neun Monate die Grundlage entzieht? „Für unsere Pendler ist das schon eine Zumutung“, sagt Hermann. „Da gibt es schon viel Frust.“

Im Pendlernetzwerk, das die Stadt eingerichtet hat, kam dann auch schnell der Wunsch auf, den Ersatzverkehr zumindest etwas zu verbessern. Mit Erfolg. Am 21. Juli einigte sich die Stadt mit dem Land Brandenburg, der Bahn und den Verkehrsverbünden zumindest vier Mal am Tag einen Expressbus nach Stendal einzusetzen. Steigen die Pendler dort in den ICE um, schaffen sie es zumindest in rund zwei Stunden nach Berlin. „Ich bin sehr froh, dass wir das auf den letzten Metern noch umsetzen konnten“, sagt Hermann. „Das ist eine gewisse Erleichterung.“

Shuttle-Service für Ärzte

Aber nicht nur die Pendler fragen sich, wie sie diese neun Monate überstehen sollen. Auch viele Unternehmen in der Region haben sich intensiv vorbereitet. Besonders viel tut die Elbmed Prignitz, um ihre aus Berlin anreisenden Ärzte trotz Bahnsperrung zu halten.

Das Ärztehaus der Elbmed Prignitz in Wittenberge.

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Für das Ärztehaus in Wittenberge hat das Unternehmen ein E-Auto besorgt. Damit werden ein Hautarzt und ein Allgemeinmediziner während der Bahnsperrung zum Bahnhof Stendal fahren. Sieben aus Berlin zum Kreiskrankenhaus Perleberg pendelnde Ärzte holt ein Verwaltungsmitarbeiter mit einem neu angeschafften Transporter-Bus jeden Morgen in Stendal ab und bringt sie abends zurück.

Das kostet das Unternehmen zwar Geld, aber das stand für Geschäftsführer Karsten Krüger nicht im Vordergrund. „Das sind wichtige und sehr angenehme Mitarbeiter, die wir nicht verlieren möchten“, sagt er.

Schließlich muss Krüger die medizinische Versorgung in der Prignitz sichern. Dass die Bahn so lange nicht fährt, macht ihm deshalb Sorgen. Er fürchtet, dass es ihm künftig schwerer fallen wird, Berliner Ärzte und Pfleger von einem Arbeitsplatz in Wittenberge oder Perleberg zu überzeugen.

Schnelllader für E-Autos als Alternative

Seine Gedanken macht sich auch Jan Lange. Geht man vom Bahnhof an den Gründerzeithäusern vorbei zum Elbhafen, stehen dort umgeben von Wiesen eine Reihe schöner alter Backstein-Industriebauten. In den denkmalgeschützten Gebäuden der alten Ölmühle betreibt Lange zusammen mit seinem Vater das weitläufige Elbe-Resort.

Lange hat auf die Sperrung der Bahn mit einer Marketingoffensive reagiert, damit weiter genug Gäste in das Hotel und die drei Restaurants kommen und Attraktionen wie Escape Rooms, den Tauchturm und die Wellness-Landschaft besuchen. „Wir signalisieren unseren ökologisch bewussten Kunden etwa per Mail und über unsere Newsletter, dass sie trotz Bahnsperrung weiter gut zu uns anreisen können“, sagt er.

Kommen die Gäste auch ohne Zug? Das Elbe Resort in der alten Ölmühle in Wittenberge.

© Caspar Schwietering

Dafür lässt Lange auf dem Gelände gerade Schnelllader für E-Autos installieren. Für E-Bikes schafft er eine Reparatur-Station. „Viele unserer Übernachtungsgäste reisen aber ohnehin mit dem Auto an“, sagt der Hotelier.

Schmerzhafte Einschnitte spürt er bisher vor allem bei den Tagungsgästen. „Uns haben einige Firmen abgesagt, weil sie die Anreise für ihre Mitarbeiter ohne Bahn für eine Zumutung halten“, sagt Lange. Neun Monate könne man das kompensieren. „Aber die Sanierungsarbeiten sollten sich jetzt nicht um ein halbes Jahr verlängern.“

Das 1846 erbaute Empfangsgebäude des Bahnhofs in Wittenberge wird derzeit saniert. Weder davor noch dahinter wird in den nächsten neun Monaten ein Zug fahren.

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Bürgermeister Oliver Hermann hat derweil schon die Zeit nach der Sperrung im Blick. Er sieht die Bahnsanierung auch als Chance. 2027 veranstaltet Wittenberge die Landesgartenschau. Dafür richtet die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt derzeit klassizistische Empfangsgebäude des Bahnhofs her.

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Mit dem zusätzlichen Bahnsteig könnten die Fernzüge zwischen Berlin und Hamburg dann stündlich in Wittenberge halten. „Nun erwarten wir, dass die Bahn diese Angebotsverbesserung auch umsetzt, für die jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden“, sagt Hermann.