Lionel Martin musiziert mit Anne-Sophie Mutter, reist um die Welt und stellt in Stuttgart ein eigenes Konzert auf die Beine. Was hat es mit dem Projekt auf sich?

Talent und Fleiß sind nicht genug. Man muss auch Glück haben, um als Musiker glücklich werden zu können. Lionel Martin ist ein glücklicher Musiker, und tatsächlich hat ihn dieses Glück schon als Dreizehnjährigen ereilt. Damals hat er den Wettbewerb „Jugend musiziert“ gewonnen.

Das allein wäre für einen so Cello-Begabten und -Begeisterten wie ihn noch nichts Ungewöhnliches gewesen – hätte ihn danach beim Preisträgerkonzert nicht Michael Russ gehört. Der aber veranstaltet nicht nur Konzerte, sondern ist außerdem stellvertretender Vorsitzender der Anne-Sophie-Mutter-Stiftung. Russ hat dem blutjungen Musiker eine Bewerbung ans Herz gelegt, und so haben sich seit 2017 für Lionel Martin viele Türen geöffnet. Als Kammermusiker ist er, oft gemeinsam mit der Stargeigerin, in den renommiertesten Sälen Europas aufgetreten. Und zurzeit fördert die Stiftung den Cellisten gemeinsam mit dem Südwestrundfunk bei einem „mutigen Auftragswerk“, das 2026 uraufgeführt werden soll.

Ein gigantisches Unternehmen

So sagt es Lionel Martin, aber mehr will er noch nicht verraten. Überhaupt hat er gerade ziemlich viel anderes im Kopf – vor allem ein Herzensprojekt, bei dem er nicht nur Solist, sondern auch Manager und Geschäftsführer ist. Am 1. August wird er gemeinsam mit einem Projektorchester aus ehemaligen Mitstudierenden in der Stuttgarter Kirche St. Fidelis John Taveners Cellokonzert „The Protecting Veil“ aufführen, ergänzt um Ralph Vaughan Williams’ Fantasie über ein Werk von Thomas Tallis. Tags darauf gibt es das Konzert auf Einladung des Festivals Europäische Kirchenmusik nochmals in Schwäbisch Gmünd.

Ein gigantisches Unternehmen. Taveners 1988 entstandener Fünfzigminüter für 33 Streicher wird selten aufgeführt; mit seinem meditativen instrumentalen Mariengesang reiht sich der britische Komponist in die Tradition der orthodoxen Kirchenmusik ein. Lionel Martin hat das Stück schon als 18-Jähriger auf seiner Debüt-CD eingespielt, und immer noch ist er begeistert: „Diese Musik hat eine total reinigende Wirkung. Man verliert beim Zuhören das Zeitgefühl.“ Dies zu erreichen, sei allerdings anstrengend: für das Orchester „vor allem wegen der vielen Liegetöne“, für ihn als Solisten, weil er immer in höchster Lage spiele und im ganzen Stück keine einzige Pause habe. „Da habe ich“, sagt der Cellist, „beim Üben Muskeln trainiert, von denen ich gar nicht wusste, dass sie existieren.“

Um die Musiker seines Orchesters adäquat bezahlen zu können, hat Lionel Martin für das Konzert in St. Fidelis bei der Stadt Stuttgart einen Förderantrag gestellt. Der hatte auch deshalb Erfolg, weil ihn ein Sozialprojekt flankiert: In Kooperation mit dem Verein Labyrinth und gemeinsam mit der Journalistin Sophie-Caroline Menges hat Martin mit 15 jungen Geflüchteten über Taveners Stück, über Sehnsucht, Heimat und ihre Mütter gesprochen; ein Audio-Feature dieser besonderen Art von Musikvermittlung soll beim Konzert abgespielt werden. „Das ist“, sagt Lionel Martin, „das erste Mal, dass ich so ein größeres Projekt aufziehe, dazu noch fast alleine.“ Enorm anstrengend sei das, „aber sehr erfüllend“.

Und es zeigt, was man auch haben muss, um als Musiker glücklich werden zu können: Lust an der Kommunikation. Wobei diese in diesem Fall ausdrücklich jene Plattformen ausschließt, auf denen junge Menschen heute vornehmlich für sich werben. Lionel Martin ist weder auf Facebook noch auf Instagram, denn „das zusätzlich zu tun, würde mich wahnsinnig stressen“. Und: „Ich bewahre so meinen Seelenfrieden.“

Der Bruder ist Pianist, die Schwester spielt auch Cello

Nach seinem Masterabschluss in Zürich ist der 22-Jährige jetzt für „Professional Studies“ an der hessischen Kronberg Akademie eingeschrieben, lebt aber in Leipzig. Er liebt Bach, hat aber „einen besonders natürlichen Zugang zur Musik des 20. Jahrhunderts“, vor allem zu Britten und zu den sowjetischen Komponisten. Geforscht hat er (Begeisterung!) über den russischen Cellisten Daniel Schaffran.

Irgendwann „mit Ende 20“ will er nach einer festen Stelle suchen, am besten in der Lehre. Eine Orchesterstelle wäre ihm „auf Dauer zu wenig abwechslungsreich“. Dann doch lieber mehr von den Duo-Konzerten, die er gerade häufig mit seinem Klavier spielenden älteren Bruder gibt. Bei denen gibt es – eine Spezialität von Demian Martin – am Ende immer eine Improvisation: das musikalische Zuhause von Demian, reiner Nervenkitzel für Lionel, und „wir haben die heimliche Theorie, dass manche nur wegen der Zugabe in unsere Konzerte kommen“. Ach ja, und dann gibt es noch eine Schwester. Die spielt auch Cello, studiert jetzt aber Medizin, und „in der Familie“, sagt Lionel augenzwinkernd, „sind wir total stolz auf sie, weil sie etwas Richtiges macht“.

Termine in Stuttgart und Schwäbisch Gmünd

Cellist
Lionel Martin wurde in Tübingen geboren. Mit fünf Jahren erster Cellounterricht, Studium in Zürich bei Thomas Grossenbacher und in Kronberg/Taunus bei Frans Helmerson. Seit 2017 Stipendiat der Anne-Sophie-Mutter-Stiftung, seit 2021 Förderung als „SWR Kultur New Talent“.

Konzerte
John Taveners Cellokonzert und Ralph Vaughan Williams’ Fantasie von Thomas Tallis sind an diesem Freitag um 19 Uhr in der St. Fidelis-Kirche in Stuttgart und am Samstag um 20 Uhr in der Augustinuskirche in Schwäbisch Gmünd zu hören.

Karten
unter 0761 / 88 84 99 99 bei Reservix (Stuttgart) oder unter 07171/ 603 42 50 bei der Tourist-Info (Schwäbisch Gmünd).