Das Netz wird die Schlachten von morgen entscheiden. Noch viel deutlicher – und vor allem viel früher als in Deutschland – sind solche Trends in den USA und Großbritannien zu beobachten. Seit das Vereinigte Königreich mit dem sogenannten Online Safety Act das schärfste Internetgesetz seiner Geschichte durchgesetzt hat, tobt auf der Insel vor Europa ein Kulturkampf, der seinesgleichen sucht.

Seit etwa einer Woche ist der britische Online Safety Act (OSA) in Kraft – ein Gesetz, das Kinder und Jugendliche vor schädlichen Inhalten im Netz schützen soll, aber gleichzeitig eine hitzige Debatte über Zensur, Überwachung und digitale Freiheitsrechte entfacht hat. Während die sozialdemokratische Regierung in London das Gesetz als „historischen Fortschritt“ feiert, formiert sich massiver Widerstand: Hunderttausende Briten fordern die Abschaffung des Gesetzes, Internetplattformen warnen vor technischen Problemen, und Oppositionspolitiker wie Nigel Farage sprechen gar von einer „staatlichen Unterdrückung der Meinungsfreiheit“.

Eine Frage lautet: Könnte dieses Gesetz auch ein Vorbild für Deutschland und andere europäische Länder werden? Und wo liegen die größten Gefahren für die Bürgerrechte?

Strafen von 20-Millionen-Euro-Bußgeld bis zu Haft

Der OSA verpflichtet Online-Plattformen, illegale Inhalte wie Terrorpropaganda, Kinderpornografie oder Hassrede zu entfernen und „Jugendschutzmaßnahmen“ einzuführen. Besonders umstritten ist eine vorhergesehene strikte Altersüberprüfung, wonach beispielsweise Porno- und Social-Media-Plattformen Nutzer per Gesichts-Scan, Kreditkartenprüfung oder Ausweiskontrolle verifizieren müssen. Selbst Foren wie Reddit und Kommunikationsplattformen wie Discord sind von den Maßnahmen betroffen.

Außerdem sorgt eine in sozialen Medien diskutierte algorithmische Zensur für mächtig Aufregung in Großbritannien. Internet-Unternehmen, die weiterhin in England, Schottland, Wales und Nordirland operieren wollen, müssen demnach eine Änderung an ihren Algorithmen vornehmen. Beispielsweise müssen dann Plattformen „schädliche, aber legale“ Inhalte herausfiltern. Kritiker befürchten, dass dies zum „Overblocking“ führt – also selbst harmlose Posts gesperrt werden könnten, wenn sie bestimmte Schlüsselwörter oder Emojis enthalten.

Auch der harte Strafenkatalog sorgt für Unmut. Bei Verstößen gegen das neue Internet-Gesetz droht Unternehmen wie Google ein Bußgeld von 20 Millionen Euro oder bis zu zehn Prozent des globalen Umsatzes – je nachdem, welcher Betrag höher ist. Auch mögliche Haftstrafen für Führungskräfte und Manager der Online-Plattformen sind vorgesehen.

Die Regierung von Premier Keir Starmer argumentiert, dass 25 Prozent der Suizide unter Jugendlichen in Großbritannien mit Online-Inhalten in Verbindung stehen. Das OSA-Online-Gesetz soll dem entgegenwirken.

Warum ist das Gesetz so umstritten?

Rund um das neue Internet-Gesetz ist in den vergangenen Tagen eine heftige politische Debatte entbrannt. Allen voran der Vorwurf der Zensur bestimmt aktuell die innenpolitischen Diskussionen im Londoner Speakers‘ Corner oder den Pubs von Birmingham bis Manchester. Nigel Farage von der rechten Partei Reform UK nannte den OSA eine „staatliche Unterdrückungsmaßnahme“ und kündigte an, das Gesetz im Falle eines Wahlsiegs sofort abzuschaffen. In Umfragen liegt die Rechtsaußenpartei mit 30 Prozent weit vor der regierenden Labour-Partei (22 Prozent) und den Konservativen (17 Prozent). Sofern keine erneute vorzeitige Neuwahl angesetzt wird, findet die nächste britische Unterhauswahl aber erst im Sommer 2029 statt.

Der britische Wissenschaftsminister Peter Kyle steht wegen eines Posts auf X in der Kritik.

Der britische Wissenschaftsminister Peter Kyle steht wegen eines Posts auf X in der Kritik.Justin Ng/Avalon/imago

Wissenschaftsminister Peter Kyle konterte jedenfalls die Farage-Kritik am Gesetz. „Wer den Online Safety Act aufheben will, steht auf der Seite der Sexualstraftäter. So einfach ist das“, postete er auf X. Der Tweet sorgte wiederum bei der Opposition für Empörung. Der Tenor: Dieses Gesetz schütze keine Kleinkinder, sondern unterdrücke die freie Meinungsäußerung.

Zudem offenbart die technische Umsetzung des Gesetzes massive Schwachstellen. Schon jetzt umgehen Nutzer die Alterschecks problemlos – sei es durch VPNs, die seit Inkrafttreten des OSA zu den meistgeladenen Apps in England gehören, oder durch kreative Tricks wie die Manipulation von Gesichtserkennungssystemen mit Videospiel-Avataren.

Gleichzeitig zwingt der regulatorische Aufwand kleinere Plattformen in die Knie; einige Foren haben bereits ihre Schließung angekündigt, da sie die Compliance-Kosten nicht stemmen können. Auch Porno-Seiten klagen über massive Einbrüche bei Reichweite und Einnahmen. Wikipedia wehrt sich zudem vor Gericht und warnt, der OSA gefährde nicht nur die Anonymität seiner freiwilligen Editoren, sondern mache die Enzyklopädie anfällig für gezielte Manipulation und Vandalismus.

Die schärfsten Bedenken richten sich jedoch gegen die massiven Datenschutzrisiken: Die Electronic Frontier Foundation (EFF) warnt vor einem System der Massenüberwachung und kritisiert, dass das neue Internet-Gesetz „statt Privatsphäre Altersverifikation und statt Sicherheit Backdoors in Verschlüsselung“ durchsetze. Besonders brisant ist die Sammlung biometrischer Daten, die – wie jüngste Datenskandale bei der britischen Aufsichtsbehörde Ofcom zeigen – leicht missbraucht oder gehackt werden könnten. Das könnte wiederum die ohnehin schon weitverbreitete Sorge über staatliche und kommerzielle Datenpannen weiter verschärfen.

Eine Blaupause für Deutschland?

Großbritannien steht mit dem Online Safety Act nicht allein da. Ähnliche Gesetze gibt es bereits in Australien, Irland und Teilen der USA. Doch könnte dieser umstrittene Regulierungsansatz auch in Deutschland Schule machen? Der Kinder- und Jugendschutz ist hierzulande ein zentrales Thema, etwa in Debatten über Social-Media-Sucht oder Cybermobbing. Die EU hat mit dem Digital Services Act (DSA) bereits strengere Plattform-Regulierung eingeführt, allerdings ohne vergleichbar invasive Alterschecks wie im OSA.

Deutschland verfügt wiederum über eine starke Datenschutzkultur, die eine staatliche biometrische Verifikation oder massenhafte Datenauswertungen schwieriger machen würde als im Vereinigten Königreich. Grund- und Bürgerrechte wie Anonymität – etwa für Wikipedia-Editoren – genießen einen hohen Schutz hierzulande. Deutsche Gerichte könnten OSA-ähnliche Maßnahmen aufgrund ihrer Unverhältnismäßigkeit kippen. Eines ist klar: Die Debatte um Meinungsfreiheit im Netz wird nicht nur in Großbritannien weitergehen, sondern auch in Deutschland.