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Die Zeichnung in dem Notizbuch zeigt ein Ferienhaus in Schottland, auf der gegenüberliegenden Seite hat Anneke Reiß ihre Gedanken in einem Gedicht verfasst. „Ich bin sehr kunstaffin und hatte eigentlich gedacht, dass ich einen Kurs zum Malen belege. Schließlich ist es kreatives Schreiben geworden. Der Titel: Poesie des Alltags“, sagt sie. Die 43-Jährige hat den Kurs in der Bremer Volkshochschule (VHS) von ihrer Hausärztin verordnet bekommen – er ist Teil des Projekts „Kunst auf Rezept“. Das Angebot ermöglicht es psychisch belasteten Bremerinnen und Bremern, kostenlos an einem Kunst- oder Kulturkurs der VHS teilzunehmen. Das Kunst-Rezept kann von Ärzten, Psychotherapeuten oder auch Beratungsstellen ausgestellt werden.

Seit Anfang 2023 läuft das EU-Pilotprogramm „Arts on Prescription in the Baltic Sea Region“, an dem sich auch Finnland, Lettland, Litauen, Polen und Schweden beteiligen; für Deutschland nimmt Bremen als einziges Bundesland teil. Umgesetzt wird es von der Senatorin für Gesundheit, dem Senator für Kultur und der VHS. „Ausgewählt wurden Kunstkurse, für die keine Vorkenntnisse erforderlich sind“, erklärt VHS-Projektleiterin Hannah Goebel. „Das Spektrum reicht von Malen über kreatives Schreiben, Fotografie, Zeichnen, Improtheater oder Gesang.“

Die Kunst-Rezepte werden in über 70 Bremer Praxen und Beratungsstellen ausgestellt.

Die Kunst-Rezepte werden in über 70 Bremer Praxen und Beratungsstellen ausgestellt.

Foto:
Christina Kuhaupt

Anneke Reiß ist an einer Depression erkrankt. „Im ersten Jahr, in der sehr akuten und schweren Phase, wäre ich dazu noch nicht in der Lage gewesen“, sagt sie. „Im Frühjahr hat mir meine Hausärztin dann von Kunst auf Rezept berichtet. Kreativ zu sein, tut der Seele gut, das weiß ich. Selbst wäre ich aber nie auf die Idee gekommen, mich zu einem Kurs anzumelden.“ Auch bei dieser Hürde soll das Rezept helfen.

Die alleinerziehende Bremerin hat das kreative Schreiben nicht nur als Auszeit von ihrem häufig stressigen Alltag gesehen. „Sobald ich in dem Kurs saß, konnte ich den Schalter umlegen, ich bin sofort runtergekommen und in eine Kreativ-Blase eingetaucht – gemeinsam mit anderen Kreativen“, sagt sie. „Das Tollste war, den Kopf abzuschalten, zwei Stunden lang mal keine Mutter und keine kranke Frau zu sein. Das war sehr entspannend und befreiend.“ Die Teilnehmer in den Kursen erfahren nicht, wer per Rezept dabei ist. Anneke Reiß geht offen mit ihrer Krankheit um: „Vielleicht kann ich damit auch andere ermutigen, sich Hilfe zu suchen“, betont die 43-Jährige.

Das Kunst-Rezept, das tatsächlich auf Papier ausgestellt wird, sei eine Ergänzung. „Es ist kein therapeutisches, sondern ein Angebot zur Gesundheitsförderung“, betont Hannah Goebel. Im Vordergrund stehe vor allem auch die Prävention. Zusätzlich zu den Kursen gibt es eine Begleitgruppe, in der sich die Rezept-Teilnehmer regelmäßig austauschen und auch Adressen etwa von Anlaufstellen für die Zeit danach erhalten.

Bis Ende 2025 läuft das große Projekt, in der aktuellen Phase gehe es bereits um die Auswertung: „Für den Zeitraum vom 1. August bis 31. Dezember 2025 unterstützt das Gesundheitsressort das Projekt Kunst auf Rezept mit 19.000 Euro, zusätzlich werden rund 3000 Euro vom Kulturressort zur Zwischenfinanzierung bereitgestellt“, teilt Lea Schunk, Sprecherin der Gesundheitsbehörde, mit. Damit das Projekt in Bremen auch über die vorgesehenen drei Pilotphasen noch angeboten werden könne. 27 Plätze sind laut Hannah Goebel für das kommende VHS-Semester vorgesehen.

76 Teilnehmer, 200 Anfragen in Bremen

Die Behörde zieht ein positives Zwischenfazit: 76 Menschen hätten bislang teilgenommen, bei knapp 200 Anfragen seit dem Start. „Die Kunst-Rezepte wurden in über 70 teilnehmenden Arzt- und Psychotherapie-Praxen sowie Beratungsstellen ausgestellt“, so die Sprecherin. Erste Ergebnisse zeigten, dass sowohl die künstlerische Betätigung als auch der soziale Aspekt für das psychische Wohlbefinden der Teilnehmer von Bedeutung seien. An der Finanzierung für eine Fortführung werde derzeit gearbeitet.

Neu: Soziales Rezept gegen Einsamkeit

Kunst auf Rezept folgt dem Ansatz des Social Prescribing: Vorbild ist England, wo die soziale Verordnung vor etwa zehn Jahren entwickelt wurde und heute zentraler Bestandteil der primären Gesundheitsversorgung sei. Hintergrund ist: Hausärzte erkennen soziale Probleme wie Einsamkeit, finanzielle Schwierigkeiten, Konflikte in Familien oder am Arbeitsplatz als Ursache für gesundheitliche Beschwerden und verweisen Patienten an nicht-medizinische Angebote wie Gruppenaktivitäten, Beratungsstellen, Sportvereine oder auch Schuldnerberatungen. Die Berliner Charité leitet ein europaweites Projekt dazu, für das erste Hausarztpraxen soziale Rezepte ausstellen.

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